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Gunther warf Hagen einen raschen, warnenden Blick zu, zauberte ein Lächeln auf seine Züge und trat dem Xantener entgegen. Siegfried wartete reglos, bis Gunther die wenigen Stufen hinabgegangen und vor ihm stehengeblieben war, dann trat er ihm seinerseits entgegen, neigte das Haupt und beugte - in einer nur angedeuteten Verbeugung - das Knie. »Mein König«, sagte er. »Euer treuester Diener erwartet Eure Befehle.« Gunther antwortete in dem gleichen gezwungen höflichen und vollkommen unpersönlichen Ton, aber Hagen hörte nicht, was er sagte. Der Anblick, der sich ihm bot, hatte ihn vollkommen in seinen Bann geschlagen. Wie gelähmt starrte er auf Siegfried und die zwölf stummen Riesen hinter ihm hinab, und doch sah er den Nibelungen kaum. Aber er sah etwas anderes, er sah, was Dankwart gemeint hatte, als er sagte: Er stiehlt uns Worms. Er sah und fühlte, weshalb Gunther plötzlich Angst vor Siegfried hatte und weshalb Ortwein von Metz willens war, einen feigen Mord zu begehen, wenn ihm kein anderer Ausweg blieb. Siegfrieds Erscheinen hatte nicht nur Giselher und Gernot verzaubert und nicht nur seine eigenen Gedanken gelähmt. Vorhin, als Gunther erschienen war, hatte Hagen vereinzelte Hochrufe gehört, hatte lachende Gesichter gesehen und Hände, die zum Gruß erhoben waren und winkten. Er hatte den Respekt gespürt und die fast brüderliche Liebe, die das Volk von Worms seinem Herrscher entgegenbrachte, das Vertrauen, das sie ihm zeigten, vielleicht gerade weil sie bei seinem Kommen nicht in Begeisterungsstürme ausbrachen. Siegfrieds Erscheinen ließ die Menge in Bewunderung und Ehrfurcht erstarren. Schweigen breitete sich über den überfüllten Platz, das auch vom Letzten Besitz ergriff, eine unnatürliche, fast unheimliche Stille, als hielte die Welt selbst für einen Moment den Atem an. Gunther, ihren König und rechtmäßigen Herrscher, liebten und respektierten sie, die Menschen von Worms und die, die gekommen waren, um Gunther ihre Freundschaft zu bekunden. Siegfried verehrten sie.

Es dauerte lange, bis sich der Bann löste und Hagen wieder in der Lage war, einen klaren Gedanken zu fassen. Er war erschüttert bis auf den Grund seiner Seele, fast noch mehr als an jenem Morgen, als er Siegfried zum ersten Mal im Kampf erlebt hatte. Gunther und Siegfried schritten Seite an Seite die breiten Stufen der Treppe hinauf. Gunthers Kleider, die soeben noch von hoheitsvoller Schlichtheit gewesen waren, schienen mit einem Male schäbig und arm neben dem strahlendweißen Prachtgewand des Xanteners. Langsam näherten sich Gunther und Siegfried Kriemhild. Gunthers Schwester trat einen Schritt zurück und senkte züchtig den Blick, als Siegfried auf der obersten Treppenstufe verharrte, nur Gunther ging weiter, blieb neben seiner Schwester stehen und ergriff ihre Hand. Das gebannte Schweigen hielt an. Aller Aufmerksamkeit konzentrierte sich jetzt auf Kriemhild, Gunther und den Xantener. Siegfrieds Begleiter waren verschwunden, ohne daß Hagen es bisher bemerkt hätte; lautlos wie Schatten, die sich im Licht der Sonne aufgelöst hatten. Für eine ganze Weile geschah nichts. Siegfried und Kriemhild sahen sich nur durch Kriemhilds Schleier hindurch, und es war mehr in diesem Blick als im Blick zweier Menschen, die sich noch nie von Angesicht zu Angesicht gesehen haben. Hagen verspürte Zorn, als er Gunther ansah, der reglos und steif neben seiner Schwester stand und ihre Hand hielt Für wie dumm hielten sie Gunther, sich im Ernst einzubilden, er würde nichts von dem merken, was zwischen Kriemhild und dem Nibelungenherrscher vorging?

Schließlich war es Gunther, der das Schweigen brach. »Siegfried von Xanten«, sagte er. »Ich gebe mir die Ehre, Euch Kriemhild vorzustellen, die Schwester der Könige von Worms und Prinzessin von Burgund.« Er trat dem Xantener einen halben Schritt entgegen, hob den Arm seiner Schwester und legte ihre Hand in die Siegfrieds. Kriemhilds zarte weiße Finger verschwanden fast in der gewaltigen Pranke des Xanteners, aber Hagen bemerkte sehr wohl, daß Siegfried ihre Hand kurz und vertraut drückte, und auch das kaum merkliche Nicken ihres Kopfes. Fast bewunderte er sie; von Siegfried hatte er nichts anderes erwartet, aber Kriemhild bewies ein Maß an Selbstbeherrschung, das er ihr nicht zugetraut hätte. Gleichzeitig wuchs sein Groll. Sie machten Gunther vor aller Augen zum Narren, und auch wenn außer ihnen, Gunther selbst und Hagen niemand davon wußte, war die Beleidigung um nichts geringer. Einen Atemzug lang hielt Siegfried Kriemhilds Hand, dann ließ er sich mit einer wohleinstudierten Bewegung auf die Knie fallen, nahm seinen Helm ab, klemmte ihn unter den linken Arm und ergriff mit der Rechten wieder Kriemhilds Hand. Ihrer beiden Gesichter waren jetzt nahezu auf gleicher Höhe.

Kriemhild hielt dem durchdringenden Blick seiner blauen Augen sekundenlang stand, dann hob sie langsam die Linke und löste die bronzene Spange, die ihren Schleier hielt. Ein erstauntes Raunen ging durch die versammelte Menge auf dem Münsterplatz, als Kriemhilds Schleier fiel und Siegfried ihr Gesicht sehen konnte. Es war eine wohlerwogene Geste, und ihre Bedeutung war klar. Hagen sah, wie Gunther überrascht die Augenbrauen hochzog, ehe er seine Züge wieder unter Kontrolle brachte. »Meine Königin«, sagte Siegfried. »Die Mär von Eurer Schönheit und Anmut hat mein Herz erobert, lange bevor ich Euch sah. Doch jetzt weiß ich, daß Worte nicht ausreichen, um Eure Schönheit zu beschreiben.« Kriemhild lächelte, und momentlang blickte noch einmal das Kind, das Hagen gekannt hatte, aus ihren Augen.

»Ich ... danke Euch für Eure Worte, hochedler Ritter«, antwortete sie. »Auch ich habe viel über Euch und Eure Taten gehört.« Siegfried führte ihre Finger an seinen Mund und berührte sie flüchtig mit den Lippen. »Es geschah nur zu Eurem Ruhm, edles Fräulein«, erwiderte er. »Und es war nichts. Hätte ich geahnt, wie schön und edel Ihr in Wahrheit seid, hätte ich tausendmal wütender gegen die gefochten, die es wagten, die Hand gegen Euer Reich und die Euren zu erheben.« Gunther beherrschte sich nur noch mit Mühe, das sah Hagen. Hagen räusperte sich, so leise, daß keiner, der mehr als ein paar Schritte entfernt stand, es hören konnte, aber doch laut genug, um Siegfried und Kriemhild mit Nachdruck an seine Anwesenheit zu erinnern. Kriemhild zuckte leicht zusammen. Ihre Selbstsicherheit war nur gespielt; wie Siegfried hatte sie jede Sekunde ihres Zusammentreffens genau geplant und in Gedanken tausendmal durchlebt, ehe es wirklich soweit war. Aber zum Unterschied von Siegfried war ihre Kraft beschränkt; ein Räuspern genügte, die Maske zu lüften, hinter der sie sich verbarg. Ihre Blicke trafen sich, und in Kriemhilds Augen war ein verzweifeltes Flehen. »Laßt uns gehen«, sagte Gunther. »Die Messe beginnt, und nicht einmal Königen ist es erlaubt, Gott unseren Herrn warten zu lassen.« Kriemhild atmete sichtlich erleichtert auf, während sich Siegfried, ohne ihre Hand loszulassen, mit einer kraftvollen Bewegung erhob und neben sie trat. Gemessenen Schrittes verschwanden sie im Halbdunkel der Kirche. Hagen verharrte reglos auf der Stelle, bis sich das Kirchenportal geschlossen hatte und das dumpfe Murmeln der Betenden durch das schwere Eichenholz drang. Erst dann wandte er sich um, ging die Treppe wieder hinunter und ging zu seinem Platz auf der Ehrentribüne. Aber er betrat das hölzerne Podest nicht, sondern kehrte nach kurzem Zögern der Tribüne den Rücken und verließ den Münsterplatz und die Stadt.