»Halt endlich den Mund!« sagte Hagen warnend. »Ich habe nichts damit zu tun. Es war schon lange Gunthers Wunsch, Brunhild zum Weibe zu nehmen.« Alberich hielt nicht den Mund, senkte aber wenigstens die Stimme. »Oh, natürlich«, sagte er spöttisch. »Und es ist ein glücklicher Zufall, daß er gerade jetzt wieder daran denkt, sich zu verheiraten, wie?« Er kicherte erneut, hopste aufgeregt auf der Sessellehne auf und ab und deutete mit dem Zeigefinger auf Siegfried. »Soll er doch sehen, wie er Kriemhild die wahre Geschichte seines Drachenkampfes und des Ringes Andwaranaut erzählt!« kicherte er. »Und wie er Brunhild erklärt, daß er einer anderen sein Wort gegeben hat. Es wäre interessant, Zeuge dieses Gesprächs zu sein, denn seine Kraft und sein unverschämtes Glück werden ihm kaum dabei von Nutzen sein. Schade, daß ich es nicht erleben werde.« »Du wirst überhaupt nichts mehr erleben, wenn du nicht sofort still bist«, sagte Hagen drohend und legte die Hand auf das Schwert. Alberich deutete eine spöttische Verbeugung an. »Oh, verzeiht, edler Hagen«, sagte er. »Ich wollte Euch nicht erzürnen. Nicht einen Mann, der mir als Intrigant ebenbürtig ist«
Hagen starrte ihn finster an und stand dann so unvermittelt auf, daß Alberich auf der Lehne das Gleichgewicht verlor und mitsamt dem Stuhl zu Boden fiel. Die Umstehenden begannen zu lachen. »Und jetzt, edler Fürst der Alben«, sagte Hagen mit beißendem Spott, »habt die Güte, mich zu entschuldigen. Und entschuldigt mich auch bei Eurem Herrn, daß ich seinem Ehrentage nicht weiter beiwohnen kann. Ich bin ein kranker Mann und muß mich zurückziehen. Ihr werdet Verständnis haben.«
Alberich rappelte sich mühsam vom Boden hoch. Seine Augen sprühten vor Zorn, als er Hagen unter der verrutschten Kapuze seines Mantels hervor musterte. Aber er sagte nichts mehr.
Hagen ging. Verwunderte Blicke folgten ihm, als er in Richtung Ausgang schritt, und so manche Hand streckte sich aus, um ihn zurückzuhalten. Aber er kümmerte sich nicht darum. Sein Entschluß, sich zurückzuziehen, stand fest. Und er brauchte Kraft für den morgigen und die kommenden Tage. Als er die Tür erreichte, sah er noch einmal zurück. Siegfried hatte sich von seinem Platz erhoben und redete mit einem seiner beiden Wächter, aber seine Augen waren starr auf Hagen gerichtet. Hagen vermochte Siegfrieds Blick nicht zu deuten, aber was immer es war - es ließ ihn frieren. Er mußte sich mit aller Macht beherrschen, um die letzten Schritte aus dem Saal nicht zu rennen.
26
Das Schiff wiegte sich sanft im Rhythmus der Wellen, und das Knarren und Ächzen des Holzes schien sich mit dem Rauschen des Flusses, dem schweren, feuchten Flappen der Segel und dem Singen des straffgespannten Tauwerks zu einer sonderbaren Melodie zu vereinigen, einem schwermütigen Lied, das irgend etwas tief in ihm berührte und zum Klingen brachte. »Seid Ihr bereit, Herr?«
Hagen sah den Mann einen Augenblick lang verwirrt an, ehe die Erkenntnis, daß die Frage ihm galt und daß sie nach einer Antwort verlangte, in sein Bewußtsein drang.
»Ich ... ja«, sagte er stockend und lächelte. »Warte. Einen Moment noch. Du kannst alles bereitmachen.« Er gab dem Mann keine Gelegenheit, um zu antworten, sondern drehte sich mit einer ruckartigen Bewegung um und trat mit einem großen Schritt auf den hölzernen Landungssteg hinauf. Das Boot erzitterte unter seinem Gewicht, und das gleichmäßige Scharren, mit dem sich die Bordwand am Steg rieb, kam für einen Moment aus dem Takt. Hinter ihm begann der Kapitän des Schiffes seinen Männern Kommandos und Befehle zuzurufen, und Hagen hörte die vielfältigen Geräusche, die die Arbeiten der Männer begleiteten. Er achtete nicht darauf, so wenig, wie er auf deren Gesichter oder ihre Namen geachtet hatte. In den nächsten sieben oder acht Tagen, je nachdem, wie lange die Fahrt dauerte und ob ihnen der Wind und die Götter günstig gesonnen waren, würde er Zeit und Muße genug haben, sich mit jedem einzelnen von ihnen bekannt zu machen; wie auf jeder längeren Schiffsreise würde ihnen die Langeweile zum Begleiter werden, solange sie Stürme und Unwetter verschonten.
Hagen ging schnell, aber ohne übertriebene Eile zu der Stelle des Ufers, an der er den schmalen Leinensack mit den wenigen Dingen, die er aus Worms mit nach Hause nehmen wollte, zurückgelassen hatte. Die Sonne war aufgegangen, schon vor einer Weile, aber es wurde nicht richtig hell, denn ihre Strahlen wurden vom Nebel verschluckt der wie eine brodelnde Wolke über das Land und den Fluß gekrochen war und alle in milchiges Weiß und Feuchtigkeit tauchte. Oben in der Stadt würden sich jetzt die ersten den Schlaf aus den Augen reiben, sofern sie nicht noch betäubt vom Wein und dem Fest, das bis in die frühen Morgenstunden gedauert hatte, dalagen, aber wenn die Stadt und die Burg vollends erwachten, würde er schon weit fort sein. Auch Hagen hatte in dieser Nacht wenig Schlaf gefunden; er war, nach seinem überhasteten Weggang, geradewegs hinauf in seine Kammer geeilt, aber kurz darauf waren Gunther und Ortwein gekommen, später noch Dankwart, und sie hatten Stunde um Stunde geredet; wechselweise, weil Gunther immer wieder gegangen war, damit sein Fehlen bei Tische nicht zu sehr auffiel. Es war eine gedrückte Stimmung gewesen, in der sie beisammengesessen hatten: Sie hätten einen Sieg zu feiern gehabt, aber bei keinem von ihnen wollte sich eine Siegesstimmung einstellen. Sie hatten Siegfried geschlagen, in einem unerwarteten Handstreich überrumpelt, aber keiner von ihnen war sicher, daß der Xantener diese Niederlage wirklich hinnehmen würde. Und auch als er schließlich allein war, hatte Hagen noch lange wach im Dunkeln gelegen und zur Decke gestarrt, ehe sich endlich ein unruhiger, viel zu kurzer Schlaf eingestellt hatte. Nun, auch zum Schlafen würde er Zeit genug haben, auf dem langen Weg nach Norden. Er trat vom Steg hinunter, nahm seinen Leinensack auf und schwang ihn sich über die Schulter, zögerte aber noch, gleich wieder zum Schiff zurückzukehren. Der Nebel tauchte das Rheinufer in eine unwirkliche Stimmung, und es war kalt, viel zu kalt für die Jahreszeit. Der Tau, der auf dem Gras lag, schimmerte wie Reif, und das Holz des Landungssteges war schwammig und vollgesogen mit Wasser. Selbst von hier, aus weniger als zwölf Dutzend Schritten Entfernung, war nur ein Teil des Schiffes zu sehen: der hochgereckte, feuergeschwärzte Bug mit dem geschnitzten Drachenkopf, der wie eine Seeschlange aus der treibenden grauen Nebelschicht hochwuchs, dahinter der Mast mit dem Segel, rechteckig und rotweiß gestreift, wie es die Segel der Wikingerschiffe seit Urzeiten waren, ohne daß jetzt noch jemand den Grund dafür zu sagen gewußt hätte, ein Teil des Zeltes, das im hinteren Drittel aufgeschlagen war, um ihm und seinem Bruder Schutz vor Kälte und Regen zu gewähren, die buntbemalten runden Schilde, zwischen denen die Ruder hervorsahen, jetzt noch hochgereckt wie ein bizarres Spalier; alles nur bruchstückhaft, wie einzelne Teile eines Ganzen, die aus der Wirklichkeit herausgebrochen waren. Der Nebel dämpfte auch die Geräusche und - vielleicht in Verbindung mit dem mangelnden Schlaf - die Kraft seiner Gedanken. Der Sturm von Gefühlen in seinem Inneren war abgeflaut, und zurückgeblieben war nichts als eine sonderbar wohltuende Leere und eine Müdigkeit des Geistes. Er fühlte sich so leicht wie die grauweißen treibenden Fetzen, die ihn umgaben, und ebenso unwirklich. »Hagen.«
Die Stimme kam aus dem Nebel hinter ihm, und als sich Hagen umwandte, erkannte er eine verschwommene Gestalt, groß und breitschultrig und ganz in Weiß gekleidet, daß sie mit dem Weiß des Nebels verschmolz und unwirklich wie ein Traum erschien. Es war Siegfried. Mit langsamen, gemessenen Schritten kam er aus dem Nebel auf ihn zu. Sein Haar hing ihm feucht in die Stirn, und auf der Klinge des Bahnung, den er blank gezogen in der rechten Hand trug, schimmerten winzige Wassertröpfchen. Er mußte schon lange dort gestanden und ihn beobachtet haben. Hagen ließ den Leinensack von der Schulter gleiten, warf ihn neben sich ins Gras und sah dem Xantener entgegen. Vergeblich forschte er in seinem Inneren nach einem Anzeichen von Furcht Im Gegenteil; er fühlte sich fast erleichtert. Etwas hätte gefehlt, wäre Siegfried nicht gekommen. »Ich habe Euch erwartet«, sagte er ruhig.