»Das habe ich schon getan«, sagte Dankwart. Hagen lächelte dankbar. Für einen Moment spürte er wieder das unsichtbare Band, das ihn mit seinem Bruder verband, so wie früher, als sie beide noch Kinder waren und die Welt für sie groß und wunderbar und voller Abenteuer war. Dann empfand er wieder nur Kälte und dumpfe Erschöpfung. Und Furcht.
Sie gingen los, ohne ein weiteres Wort der Verständigung, so, wie sie stets taten, wenn sie einen Feind in der Nähe wähnten - Hagen mit gezücktem Schwert voraus, sein Bruder zwei Schritte schräg hinter ihm, um seine linke Seite zu decken. Die Spur führte ein Stück geradeaus und bog dann plötzlich in scharfem Winkel nach rechts ab, direkt auf die zerklüftete Flanke der Felswand zu, in deren Schutz sie lagerten. Hagen blieb stehen. Seine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, so daß er nun ein wenig besser sehen konnte; aber nicht viel. Zumindest erkannte er, daß sich die Spuren in losem Felsgestein verloren und nach wenigen Schritten wieder auftauchten, eine Schneewehe überwindend und dann in einem jäh aufklaffenden Riß verschwindend, der den Berg spaltete wie ein Axthieb. »Das gefällt mir nicht«, murmelte Dankwart.
Hagen antwortete nicht Er trat dicht an den Felsspalt heran und versuchte vergeblich, etwas darin zu erkennen.
»Es könnte eine Falle sein«, fügte Dankwart besorgt hinzu. »Ein einziger Bogenschütze dort drinnen, und wir beide sind tot.« Hagen zuckte gleichmütig mit den Schultern. Er glaubte nicht, daß es eine Falle war. Jedenfalls keine Falle dieser Art. Würde ihnen derjenige, dessen Spuren sie verfolgten, nach dem Leben trachten, hätte er sich nicht die Mühe machen müssen, sie vom Lager fortzulocken, erschöpft wie sie alle waren. Nein - wenn es eine Falle war, dann eine ganz anderer Art Und dann waren sie längst hineingetappt. Er ging weiter. Die Dunkelheit verdichtete sich zu vollkommener Finsternis, als er in den Felsspalt eindrang. Der Boden war hier nahezu schneefrei, unter seinen Stiefeln knirschten kleine Steine und von der Kälte glashart zusammengebackenes Erdreich. Aus verschiedenen Anzeichen, die er mit Händen und Füßen ertasten konnte - hier ein vorspringendes loses Felsstück, dort ein verschobener Stein, unter dem das feuchte Erdreich zum Vorschein gekommen war - schloß er, daß er einer mit Vorbedacht gelegten Spur folgte. Mit dem Wissen des erfahrenen Kriegers erkannte er, daß nichts davon Zufall war. Der Gedanke erfüllte ihn mit Zorn. Er haßte es, wenn andere bestimmten, was er zu tun hatte. Der Spalt war lang. Hagen zählte annähernd fünfzig Schritte, ehe der bleiche Schein am jenseitigen Ende des Ganges erreicht war. Hagen trat auf eine schneebedeckte Fläche hinaus, die ringsum von steil aufragenden Felswänden umgeben war. Der Himmel hatte aufgeklart Eine Krüppelkiefer, die ihre Wurzeln in den geborstenen Fels dicht am Ausgang gegraben hatte, warf im hellen Sternenlicht einen Schatten auf den Schnee, der unzählige Arme und Krallenhände von sich streckte. Das ferne Heulen des Windes klang unheimlich und bedrohlich. Hagen wartete, bis sein Bruder neben ihn getreten war und sich ebenfalls rasch und mißtrauisch umgesehen hatte. Hagen deutete schweigend auf die Spur, die nun wieder deutlich zu sehen war. Dankwart nickte. Sie gingen los.
Die Spur führte in anscheinend sinnlosen Kehren und Schleifen durch das Tal und endete abermals an einem Felsspalt, etwas schmaler als der erste, durch den sie gekommen waren. Diesmal zögerte Hagen nicht, ihn zu betreten. Der Lärm, den seine Schritte auf dem rauhen Lavagestein verursachten, mußte in der Nacht weit zu hören sein. Hagen nahm keine Rücksicht darauf. Wer immer diese Spur gelegt hatte, wollte, daß sie ihr folgten.
Dann hatten sie den engen Tunnel durchschritten und standen am Fuß einer weiten, sanft abfallenden Ebene. Durch das Tosen des Sturmes war ein anderes, dumpfes Donnern zu hören, und in der Ferne, sicher noch Meilen entfernt, aber in der nun sternenhellen Polarnacht scheinbar auf Armeslänge herangeholt, dehnte sich nach beiden Seiten das Meer wie ein riesiger, matt glänzender Spiegel. Davor, direkt aus der Ebene emporwachsend, erhob sich der Isenstein. Hagen schauderte. Der schwarze Block, auf dessen Gipfel sich die Festung der Walküre reckte, war kaum hundert Manneslängen hoch, aber so steil, daß seine Flanken nahezu lotrecht in die Höhe strebten, dem Gipfel zu sogar überhingen, als wäre der Berg ein versteinerter Riesenpilz. Gewaltige Risse und Spalten klafften im Fels und ließen Hagen an ein ungeheures Spinnennetz denken, das den ganzen Berg einspann. Nur an einer einzigen Stelle schien es so etwas wie einen Weg zu geben, eine steile, vielfach gewundene Rampe, die in kühnem Winkel in die Höhe führte.
Und die Burg? Hagens Atem stockte für einen Moment, als er sie sah. Wie der Berg, von dem sie ihren Namen entliehen hatte, war die Burg nicht sehr groß; kaum größer als Tronje und längst nicht so gewaltig wie Worms. Aber sowie Hagen einen Blick darauf geworfen hatte, wußte er ; daß sie nicht von Menschenhand geschaffen war. Die alten Sagen hatten recht. Dies war die Wohnung der Walküren, eine Burg, wie sie nur die Götter und unter ihnen nur Odin selbst erschaffen konnte. Burgen wie diese mußten es gewesen sein, in denen die Asen mit den Wanen fochten, in den alten Zeiten, ehe die Menschen kamen, Burgen aus geballtet Finsternis und gestaltgewordener Kraft, gewaltige vieltünnige Gebilde von der Farbe der Nacht, deren Anblick den Menschen schwindeln machte. Isenstein glich einer geballten Faust aus Granit, ihre Türme waren wie abgebrochene Pfeiler, die einst den Himmel getragen hatten, und obwohl sie - wieder einmal meldete sich der Krieger in Hagen zu Wort - die vollendetste Verteidigungsanlage war, die er je gesehen hatte, schien nichts daran künstlich geschaffen oder von Menschenhand bearbeitet zu sein. Ihre Zinnen waren spitze Lavaströme, und ihre Tore waren pupillenlose Dämonenaugen, die aufmerksam auf das Land unter sich hinunterblickten. Selbst ihre Farbe war mit nichts zu vergleichen, was Hagen jemals gesehen hatte. Die Nacht ließ ihre Mauern schwarz erscheinen, aber es war ein Schwarz, das schwärzer war als die Nacht, schwärzer als die vollkommene Finsternis. Es war nicht die Abwesenheit von Licht, die dieses Schwarz ausmachte, dachte er schaudernd, sondern die Anwesenheit von etwas anderem; etwas Fremdem und Abweisendem. Geht fort schien ihnen diese Farbe zuzuschreien. Flieht diesen Ort, der den Sterblichen verboten ist, solange ihr es noch könnt! Endlich gelang es Hagen, seinen Blick von der Burg loszureißen. Trotz des heftigen Schneefalls der vergangenen Stunden war die Ebene, die sich vor ihnen erstreckte, nahezu schneefrei, und im Umkreis des Felsens war der Boden vollkommen schwarz. Vereinzelte Flocken fielen jetzt wieder vom Himmel, und Hagen meinte tatsächlich durch das Heulen des Sturmes und das Donnern der Brandung das leise Zischen zu hören, mit dem die Flocken schmolzen, kaum daß sie den heißen Stein berührten. Plötzlich war er nicht mehr so sicher, daß die Geschichte von der Waberlohe wirklich nur ein Märchen war.
Dankwart deutete nach vorne, dorthin, wo die Spur weiterging. Der Schnee dicht vor ihnen hatte sich in braungrauen Morast verwandelt und verschwand bald vollkommen, wo der Boden immer heißer wurde, und mit ihm verschwand auch die Spur. An ihrem Ende stand der Schatten.
Hagen sah ihn nur für einen Bruchteil einer Sekunde; das Huschen einer schattenhaften Gestalt vor dem Hintergrund der Nacht. Die Gestalt war nicht größer als ein Kind, und sie verschwand im gleichen Augenblick, in dem Hagen sie erblickte.
Wortlos gingen sie weiter. Sie verließen die Schneedecke und standen plötzlich auf Lava, die so heiß war, daß sie die Wärme unangenehm durch die Sohlen ihrer Stiefel hindurch fühlten. Hagen versuchte sich zu erinnern, in welche Richtung der Schatten entglitten war, aber das war unmöglich.