Dann sah er ihn wieder, etwas deutlicher als beim ersten Mal, aber trotzdem viel zu weit entfernt, um mit Sicherheit auf ein menschliches Wesen schließen zu lassen.
»Er will, daß wir ihm folgen«, murmelte Dankwart. Seine Stimme klang fremd.
»Dann sollten wir ihn nicht warten lassen.«
Sie gingen weiter, erreichten die ungefähre Stelle, an der sie den Schatten erblickt hatten, und wie Hagen erwartete, tauchte er ein drittesmal auf, wieder weiter im Westen und mehr zur Küste als zum Isenstein hin. Einmal blieb Hagen stehen und sah in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. Aber seine Befürchtung, daß sie sich im Dunkeln verirren und den Rückweg nicht mehr finden würden, erwies sich als grundlos: Die Felswand war von Schnee und Eis bedeckt und glitzerte wie ein weißer Strich vor dem Horizont, und der Spalt, der sie zurück zum Lager fuhren würde, war selbst über die große Entfernung wie eine keilförmige dunkle Narbe zu erkennen.
Hagen wußte nicht, wie lange sie so gingen. Selbst die Zeit schien ausgelöscht auf diesem verbrannten Stück Erde, und den Versuch, seine Schritte zu zählen, gab er bald wieder auf. Große und kleine Lavabrocken, die überall verstreut lagen, erschwerten das Gehen. Schließlich wurde der Boden ein wenig glatter, so daß sie besser vorankamen, aber sowie sie ihre Schritte beschleunigten, wurde auch der Schatten schneller, und es gelang ihnen nicht, ihn einzuholen.
Dann erreichten sie die Küste, und wäre ihr geheimnisvoller Führer nicht einen Moment stehengeblieben und hätte warnend die Arme gehoben, wäre Hagen vielleicht über ihren Rand in die Tiefe gestürzt. Es gab keinen merklichen Hinweis, kein Senken des Bodens, keine Böschung, sondern nur einen gewaltigen glatten Schnitt, als hätte ein Axthieb das Land gespalten. Hundert Klafter tiefer brandete das sturmgepeitschte Meer gegen den Felsen. Was immer der Grund war, aus dem der unheimliche Fremde sie hierher gelockt hatte, dachte Hagen schaudernd, während er in die Tiefe starrte, ihr Tod war es nicht Wie zum Hohn war der Mond hinter einer Wolke hervorgekommen und beleuchtete das Bild. Vorsichtig trat Hagen bis an die Felskante vor und ließ sich auf ein Knie nieder. Sie waren dem Isenstein nahe gekommen, und Hagen sah jetzt, daß ein schmaler, aus dem Fels gehauener Weg von der Flanke der Burg bis hinunter zum Strand führte. Vor den schwarzen Riffen kg ein Boot, sorgsam verankert und vertäut und mit Ketten an eisernen, im Meer befestigten Stangen gesichert. Ein schlankes, drachenköpfiges Boot mit einem blütenweißen Segel und einem blutroten Wimpel. Trotz der dutzendfachen Verankerung bewegte es sich so stark in der Brandung, daß Hagen seinen Rumpf stöhnen hörte.
»Siegfrieds Boot!« sagte Dankwart erregt. »Das muß das Schiff sein, mit dem Siegfried und Gunther gekommen sind!«
Hagen wandte den Kopf - und ließ sich mit einem Schrei seitlich nach hinten fallen. Sein Fuß kam hoch, traf den völlig überraschten Dankwart vor die Brust und schleuderte ihn meterweit zurück. Im gleichen Augenblick schlug die Klinge des Angreifers Funken aus dem Stein, an derselben Stelle, an der Dankwart noch vor einem Atemzug gehockt hatte. Der Mann war lautlos hinter ihnen aufgetaucht, auch er nur ein düsterer Schatten in der Dunkelheit. Dennoch war klar, daß es nicht der war, dem sie hierher gefolgt waren, denn er war ein Riese, eine Spanne größer als Dankwart und so breitschultrig, daß er schon fast mißgestaltet wirkte. Aber seine Bewegungen waren nicht die eines plumpen Riesen, sondern so schnell und wendig wie die einer Raubkatze. Noch während Hagen herumrollte, sich dabei an den messerscharfen Lavabrocken Gesicht und Hände blutig riß, schnellte der Angreifer vor, setzte dem gestürzten Dankwart nach und schwang seine Klinge zu einem furchtbaren Hieb. Hagen sah, wie sein Bruder nach hinten wegzukriechen versuchte und ausglitt, sich zusammenrappelte und aufsprang, aber nicht schnell genug, um der tödlichen Klinge auszuweichen.
Hagen tat das einzige, was ihm blieb. Schon bald wieder auf den Füßen, stieß er sich mit den Armen ab, trat dem Riesen in die Kniekehle und stieß mit dem anderen Bein nach seinem Fuß. Der Angreifer taumelte, ließ sein Schwert fallen, als er mit wild rudernden Armen sein Gleichgewicht zu halten suchte, und stürzte zwischen Hagen und seinem Bruder zu Boden.
Beinahe gleichzeitig kamen alle drei wieder auf die Füße. Hagen sah, wie sein Bruder rasch ein paar Schritte zurückwich und sein Schwert hob, folgte seinem Beispiel und löste mit einer blitzschnellen Bewegung den Schild vom Rücken.
Der Riese griff ihn an, als Hagen die Hand durch die Halteschlaufen schob und für einen Moment behindert war, genau, wie er vermutet hatte. Dankwart reagierte darauf, stieß einen gellenden Schrei aus und täuschte einen geraden Stich nach dem Rücken des Mannes vor, so, wie sie es hundertfach geübt hatten. Der Riese brach seinen Angriff ab, wirbelte herum und schlug nach Dankwarts Klinge, aber dieser war längst zurückgesprungen und griff nun seinerseits nach seinem Schild. Für einen Moment wirkte der Fremde unentschlossen. Vielleicht begriff er, daß er die beiden Männer unterschätzt und den einzigen Vorteil, der auf seiner Seite gewesen war - die Überraschung - verschenkt hatte. Obwohl er den Kopf so hielt, daß das Licht der Sterne auf sein Gesicht fiel, konnte Hagen unter dem wuchtigen Helm nichts als eine dunkle, konturlose Fläche ausnehmen.
»Wer seid Ihr?« fragte Hagen laut. »Gebt Euch zu erkennen und sagt, warum Ihr uns angreift. Ich bin Hagen von Tronje, und dort steht mein Bruder Dankwart. Wir sind Freunde Gunthers von Burgund.« Der Fremde antwortete nicht. Statt dessen wandte er sich mit einer entschlossenen Bewegung Hagen voll zu und griff abermals an. Obgleich Hagen den Hieb erwartet hatte und ihn kommen sah, gelang es ihm nur mit allergrößter Mühe, ihn abzufangen. Die Klinge des Fremden sauste mit der Schnelligkeit und Kraft eines Blitzes herab und schlug Hagens Schwert einfach beiseite. Die Wucht, mit der sie auf seinen Schild krachte, ließ Hagen aufstöhnen. Der Schmerz zuckte bis in seinen Nacken hinauf, und der zollstarke Eichenschild knirschte, als wollte er zerbrechen.
Hagen keuchte vor Überraschung, duckte sich unter einem zweiten, noch wütenderen Hieb hindurch und versuchte zurückzuschlagen, aber gegen die Bewegungen des Riesen schienen die seinen unbeholfen und langsam. Der Fremde fing seine Klinge mit einer lässigen Bewegung auf, sprang auf ihn zu und schlug mit der Faust auf seinen Schild, daß Hagen abermals zurücktaumelte. Dann war sein Bruder heran, und diesmal täuschte er keinen Stich vor sondern ließ seine Klinge mit einem beidhändig geführten Hieb auf den Schwertarm des anderen herabsausen. Der Fremde bemerkte die Gefahr im letzten Augenblick Er wirbelte herum und drehte den Körper so, daß Dankwarts Schwert nur den Handschutz seiner Klinge traf. Funken sto* ben auf, als die beiden Waffen aufeinanderprallten, und die Wucht des Schlages war so groß, daß sowohl Dankwart als auch sein unheimlicher Gegner zurückprallten.
Hagen hob seinen Schild, spreizte die Beine, um festen Halt zu gewinnen, beugte sich leicht nach vorne und hielt das Schwert vom Körper weg, die Spitze gesenkt. »Gebt auf!« sagte er schwer atmend. »Wir sind zu zweit und Ihr könnt nicht gewinnen. Zwingt uns nicht, Euch zu töten!« Die Antwort war ein neuerlicher, noch ungestümerer Angriff. Aber diesmal war Hagen vorbereitet. Sein Arm schmerzte, und er wußte, daß er keinen zweiten dieser fürchterlichen Hiebe hinnehmen konnte, wollte er nicht Gefahr laufen, plötzlich mit einem gelähmten Schildarm dazustehen, was seinem Todesurteil gleichgekommen wäre. So versuchte er nicht, die wütenden Hiebe des anderen abzufangen, sondern wich der pfeifenden Klinge immer wieder aus, während er Schritt für Schritt vor dem tobenden Giganten zurückwich.