Aber auch der Riese änderte seine Taktik. Er führte seine Hiebe noch immer beidhändig und mit ungeheuerlicher Kraft, aber er stand keine Sekunde still, sondern sprang unentwegt von einer Seite auf die andere und versuchte so zu verhindern, daß Dankwart noch einmal in seinen Rücken geriet Dann streifte einer dieser furchtbaren Schläge Hagens Schild und riß Splitter aus dem eisenharten Holz, und obwohl die Berührung flüchtig gewesen war, riß sie Hagen abermals von den Füßen und ließ ihn hintenüber fallen.
Wieder war es Dankwart, der ihn rettete. Diesmal bezahlte er seinen Angriff mit einem tiefen, blutenden Stich im Oberarm, den ihm der Unheimliche zufügte.
Mühsam stemmte sich Hagen auf die Füße. Die Gestalt des Riesen begann vor seinen Augen zu zerfließen. Er wußte, daß Dankwart und er sterben würden, wenn es ihnen nicht gelang, dem Kampf ein rasches Ende zu bereiten. Der Fremde schien weder Schmerz noch Ermüdung zu kennen. Hagen war nicht mehr sicher, ob sie überhaupt mit einem Menschen kämpften.
Er löste den Schild von seinem linken Arm, ließ ihn zu Boden gleiten und packte das Schwert mit beiden Fausten. Sein Herz raste, und unter den schweren Handschuhen waren seine Hände feucht vor Schweiß. Der Riese hob sein Schwert und blieb unvermittelt wieder stehen, als Hagen zurückwich und sein Bruder im gleichen Augenblick einen Schritt auf ihn zutrat. Er schien zu überlegen, mit welcher Taktik er den einen von ihnen bezwingen konnte, ohne gleichzeitig von hinten niedergeschlagen zu werden.
Die Entscheidung kam wie immer sehr schnell. Der Riese täuschte einen Angriff in Dankwarts Richtung vor, riß sein Schwert im letzten Moment herum und führte einen heimtückischen Hieb von unten herauf nach Hagens Leib. Hagen wich der Klinge im letzten Augenblick aus, konnte aber nicht verhindern, daß der messerscharfe Stahl sein Kettenhemd zerfetzte und eine blutende Furche von seinem Nabel bis zum Halsansatz hinauf in seine Haut schnitt. Mit einem Schmerzensschrei fiel er zu Boden, sah, wie der Unheimliche abermals herumfuhr und nach Dankwarts Gesicht stieß, und schlug blind mit dem Schwert zu. Seine Klinge traf das rechte Bein des Riesen dicht über der Ferse und zerschnitt seine Fessel. Der Gigant krümmte sich vor Schmerz, ließ sein Schwert fallen und kippte nach vorne, als das verletzte Bein unter seinem Gewicht nachgab.
Im gleichen Augenblick bohrte sich Dankwarts Klinge mit einem häßlichen Knirschen durch seinen Harnisch.
Der Riese bäumte sich auf. Sein Körper bebte wie in einem fürchterlichen Krampf, und ein dumpfer, röchelnder Laut drang unter seinem Helm hervor. Mit einer schier unmöglich erscheinenden Kraft stemmte er sich noch einmal in die Höhe, umklammerte die tödliche Klinge, die zwei Handbreit tief in seiner Brust steckte, und entriß sie Dankwarts Händen. Dann kippte er lautlos nach hinten und stürzte über die Felskante. Hagen wollte aufstehen, aber seine Beine versagten ihm den Dienst; er sank zurück, rang keuchend nach Atem und ließ es zu, daß Dankwart ihn wie ein Kind unter den Armen ergriff und hochhob. »Bist du schwer verletzt?« fragte Dankwart erschrocken. Hagen versuchte den Kopf zu schütteln. »Das ist ... nichts«, sagte er stockend. In seinem Mund war Blut. Er schluckte es hinunter, und plötzlich begann der Schnitt in seiner Brust wie wahnsinnig zu schmerzen. Er stöhnte leise. »Bei Odin, Dankwart - was ... was war das?« murmelte er. »Ich weiß es nicht«, antwortete Dankwart leise.
Dabei beließen sie es. Ihre Überlegungen hätten zu nichts geführt, und im Augenblick gab es Dringenderes zu tun.
»Du blutest«, sagte Dankwart. »Laß mich nach deiner Wunde sehen.« Er streckte die Hand aus, aber Hagen schüttelte entschieden den Kopf und preßte die Rechte auf den blutenden Schnitt »Später«, sagte er. »Wir müssen so schnell wie möglich zum Lager zurück.«
Es dauerte einen Moment, bis Dankwart begriff. Seine Augen weiteten sich vor Schrecken. Ohne ein weiteres Wort wandten sie sich um und liefen, so schnell sie konnten.
Aber es war nicht sehr schnell.
5
Über dem Lager lag das Schweigen des Todes. Das Feuer war erloschen, zertrampelt von eisenbeschlagenen Hufen und erstickt von dem leblosen Körper, der darüber lag und sein Blut in die Asche verströmte. Hagen starrte das furchtbare Bild an, und obgleich er geahnt hatte, was sie erwartete, weigerte er sich, den Anblick zur Kenntnis zu nehmen. Er spürte nicht einmal seine Schwäche, obwohl sie ihn wanken ließ, nicht einmal die Wunde in seiner Brust, obgleich sie immer stärker brannte und ihm der Schmerz die Tränen in die Augen trieb. Die letzte Meile waren sie mehr getaumelt als gelaufen. Der Wind, der ihnen auf dem Wege zum Isenstein in die Gesichter geblasen hatte, war nun in ihrem Rücken gewesen und hatte sie geschoben wie eine unsichtbare Hand, die sie nicht rasch genug hierherbringen konnte an diese Stätte des Unheils. Dennoch wollte der Weg über die heiße Lava und danach durch den frisch gefallenen Schnee anscheinend kein Ende nehmen. Erst ein paar Steinwürfe vom Lager entfernt waren sie auf die Spuren gestoßen. Spuren von Pferden, die in breiter Front dahingaloppiert sein mußten, so daß der Schnee in weitem Umkreis zertrampelt war und der schwarze Lavaboden darunter zum Vorschein kam. Trotzdem hatte Hagen bis zum letzten Moment gehofft, nicht dieses Bild sehen zu müssen: den zertrampelten, mit bräunlichen Blutflecken besudelten Schnee, in den zerbrochene Waffen und die Fetzen von Kleidern und Zaumzeug ein wirres Muster zeichneten, und schließlich die Toten, die um das erloschene Feuer und unter der Felswand lagen, wohin einige in hilfloser Verzweiflung zurückgewichen waren, um sich gegen die Übermacht der Reiter zu verteidigen.
Es mußte sehr schnell gegangen sein. Etwa die Hälfte der Männer war im Schlaf überrascht und auf der Stelle getötet worden, und auch von den anderen hatten nur die wenigsten Zeit gefunden, zu ihren Waffen zu greifen. Die Nacht mußte die Mörder wie Gespenster ausgespien haben, den Spuren nach ein Dutzend Berittener, das ohne Gnade über die gleiche Anzahl schlafender Männer hergefallen war. Nicht alle der Toten waren durch den Speer oder das Schwert gestorben; einige lagen mit verdrehten, gebrochenen Gliedern da, als wären sie wie Vieh über den Haufen geritten worden, und aus dem Nacken des Mannes, der über dem Feuer zusammengesunken war, ragte die Spitze eines schlanken Pfeiles. »Sie ... sie haben sogar die Pferde umgebracht«, murmelte Dankwart fassungslos.
Hagen wandte den Kopf und blickte in die Richtung, in die sein Bruder deutete. Die Graustute, die er aus Tronje mitgebracht und auf dem Weg hierher geritten hatte, lag mit gebrochenen Vorderbeinen wenige Schritte neben dem Feuer. Der Schnee unter ihrem Leib hatte sich dunkel gefärbt und ihre linke Flanke war eine einzige Wunde, wo eiserne Hufe ihr Fell aufgerissen hatten.
Hagen ging auf den Kadaver des Tieres zu, kniete neben ihm im Schnee nieder und streichelte seinen Hals. Sein Fell war noch warm. Das Pferd hatte ihm nicht viel bedeutet, sondern war nur von praktischem Nutzen gewesen, weil es ein gutes und ausdauerndes Tier war, aber als er in seine offenstehenden Augen blickte, spürte er einen plötzlichen, heftigen Anflug von Mitleid.
»Wer tut so etwas?« murmelte Dankwart.
Hagen hörte die Schritte seines Bruders im Schnee knirschen, während er immer schneller zwischen den Toten hin und her ging, als versuche er wider besseres Wissen, noch irgendwo eine Spur von Leben zu entdecken. Hagen antwortete nicht. Aber vor seinem inneren Auge stand das Bild eines riesenhaften, gesichtslosen Kriegers, der mit der Kraft eines Gottes und der Gnadenlosigkeit eines Dämons focht, ohne Furcht, ohne Mitleid, lautlos und schweigend wie ein Schatten. Er hatte nicht einmal geschrien, als ihn Dankwarts Schwert traf.
Hagen erhob sich, um die Toten unter dem Felsen zu betrachten. Er entdeckte Arnulf als einen der wenigen, die Zeit gefunden hatten, ihre Waffen zu ziehen. Sein Gesicht und sein Hals waren verstümmelt, sein Schwertarm gebrochen und der Ärmel zerfetzt, aber das Schwert in seiner Hand schimmerte glatt und sauber, ohne einen Tropfen Blut. Wie unter einem magischen Zwang faßte Hagens Hand an seinen Gürtel und zog das Schwert aus der Scheide.