Vorsichtig bückte sich Hagen nach seiner Waffe, rieb mit dem Handballen die Schneespuren von der Klinge und steckte das Schwert hastig in die Scheide.
»Wie hast du ihn genannt?« fragte er. »Brunhilds Leibgarde?« »Sie«, verbesserte Alberich. »Ihr solltet wissen, Hagen, daß Brunhild keinen Mann in ihrer Nähe duldet.« Er lachte hämisch. »Ich hoffe, es verletzt nicht Euren Stolz, von einer Frau besiegt worden zu sein.« Alberich sprang behende vom Pferd, kniete neben dem Toten im erloschenen Feuer nieder und zog mit einem Ruck den Pfeil aus dessen Hals. »Das ist sonderbar«, murmelte, er nachdem er das schlanke Geschoß eine Zeitlang in den Händen gedreht und betrachtet hatte. »Was?« Hagen trat neugierig neben ihn.
»Dieser Pfeil.« Alberich hielt ihm das Geschoß hin und machte eine auffordernde Kopfbewegung, als Hagen zögerte, danach zu greifen. Der Pfeil fühlte sich seltsam an. Im ersten Moment glaubte Hagen, es wäre die Kälte, die seine Haut taub machte, so daß sich das Holz anfaßte wie glattpolierter Stahl. Aber dann hob er ihn näher an die Augen und sah, daß er wirklich aus einem ihm unbekannten Material gefertigt war. Der Pfeil war glatt wie Glas und wog scheinbar nichts in seiner Hand, dazu war er dünner als jeder übliche Pfeil, aber als Hagen versuchte, ihn zu zerbrechen, ging es nicht: Der Pfeil bog sich durch wie frisches Weidenholz und federte mit einem sirrenden Laut zurück in seine Form, als Hagen losließ.
Und noch etwas. Es war, als lebte der Pfeil. Als strömte durch ihn eine dunkle, geheimnisvolle Kraft, wie Blut durch die Adern eines Lebewesens. Die Kraft, zu töten um jeden Preis.
Hagens Hände begannen zu zittern, so daß er Mühe hatte, den Pfeil zu halten. »Was ist das?« Alberich zuckte mit den Schultern. »Wie sollte ein dummer Alb wie ich mehr wissen als der große Hagen von Tronje?« Der Klang seiner Stimme täuschte. In Alberichs Augen flackerte Angst Und plötzlich, ganz leise, sagte Hagen: »Dieser Pfeil wurde nicht von Menschenhand geschaffen.« Alberich nickte. »Ich weiß«, antwortete er. »Aber woher weiß du es?« Hagen antwortete nicht, sondern warf den Pfeil von sich in den Schnee. Alberich stellte keine weitere Frage. Statt dessen winkte er eine von Brunhilds Kriegerinnen herbei. Hagen verstand nicht, was sie miteinander redeten, denn sie bedienten sich einer Sprache, der er nicht mächtig war. Schließlich wandte sich die Reiterin um und verschwand in der Dunkelheit. Kurz darauf kehrte sie mit zwei gesattelten Pferden am Zügel zurück »Du hast an alles gedacht«, sagte Hagen anerkennend. Alberich nickte. »Dazu bin ich da.«
»Wie hast du gewußt, daß wir nur zwei Pferde brauchen würden?« Alberich zögerte einen Moment mit der Antwort. »Ich habe es nicht gewußt. Ich habe gehofft, daß noch zehn mehr nötig sein würden und ich sie nicht mit leeren Sätteln zurück in den Isenstein würde bringen müssen.«
Hagen starrte ihn an. Dann wandte er sich wortlos um und schwang sich in den Sattel.
6
Der Weg zu Pferde war weiter als der, den Hagen und Dankwart zu Fuß zurückgelegt hatten; Alberich und die Kriegerinnen umgingen den Isenstein und das vorgelagerte Lavafeld in weitem Bogen und näherten sich dem Berg und der Burg von der entgegengesetzten Seite. Hagen hatte vergeblich versucht, mehr aus dem Zwerg herauszubekommen. Alberichs Verhalten irritierte ihn. Vorhin, als Alberich und die goldgepanzerten Reiterinnen unvermittelt aus der Nacht aufgetaucht waren, hatte Hagen keinen Zweifel gehabt, wer die schattenhafte Kindergestalt gewesen war, die ihn und seinen Bruder vom Lager fort und zur Küste gelockt hatte. Jetzt war er sich dessen nicht mehr so sicher. Alberich zügelte sein Pferd. Sie waren dem Berg jetzt viel näher, als Dankwart und Hagen ihm gekommen waren. Der Sturm erreichte die Mauern der Festung nicht, sondern machte vor der Flanke des Felsens halt Es war, dachte Hagen, als wäre da eine unsichtbare, beschützende Macht, die den Naturgewalten Einhalt gebot Der Zwerg schlug den Mantelkragen zurück, den er zum Schutz vor dem schneidenden Wind über Mund und Nase gezogen hatte. »Wir sind da, Hagen von Tronje«, sagte er bedeutungsvoll. Der Weg hinauf zum Tor der Festung war weniger beschwerlich, als Hagen befürchtet hatte, denn der Pfad war von zahllosen Füßen und Hufen geglättet. Und wie den Sturm hielt der unsichtbare Schild, den die Götter über Burg und Berg gelegt hatten, auch die Kälte zurück, so daß der Stein nicht einmal vereist war und die beschlagenen Hufe der Tiere sicheren Halt fanden.
Als sie höher kamen, sah Hagen, daß sein erster Eindruck richtig gewesen war: Die Festung war nicht von Menschenhand gebaut Sie war gewachsen, war Teil des schwarzgrauen Felsmassivs; nur hie und da zweckmäßig leicht verändert, ohne den natürlichen Wuchs des Felsens zu zerstören. Die Baumeister hatten sich der Natur unterworfen, nicht umgekehrt.
Sie näherten sich dem Tor, einem gewaltigen, unregelmäßig geformten steinernen Maul, hinter dem erstickende Schwärze herrschte, als fresse dort etwas das licht. Alberich, der sich an die Spitze der Gruppe gesetzt hatte, zügelte sein Pferd. Kurz bevor es die Grenze zwischen Licht und Dunkel erreichte, brachte er es vollends zum Stehen, drehte sich im Sattel herum und blickte zu den anderen zurück. Er sagte etwas, aber so wie das Licht schien der Isenstein auch jedes Geräusch zu verschlucken; Hagen sah, wie sich seine Lippen bewegten und er die Worte mit einer ungeduldigen Bewegung der Linken unterstrich. Aber nicht der geringste Laut erreichte sein Ohr. Es war ein sonderbarer, furchteinflößender Anblick Wir sollten nicht hier sein, dachte Hagen. Kein Mensch sollte das. Alberich wartete mit sichtlicher Ungeduld, bis Dankwart und er an seine Seite geritten waren und ebenfalls angehalten hatten. Dann wiederholte er die Geste von vorhin und sagte: »Legt eure Waffen ab.« »Unsere Waffen!« Dankwart wollte auffahren, aber Hagen legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm, zog mit der anderen sein Schwert aus dem Gürtel und reichte es Alberich, der jedoch den Kopf schüttelte und eine der Reiterinnen herbeiwinkte. Schweigend nahm diese ihre beiden Schwerter entgegen, schob die Waffen sorgfältig unter einen Gurt ihres Sattelzeugs und nickte. Der Zwerg nickte ebenfalls, ließ sein Pferd einen Schritt nach vorne und zugleich zur Seite gehen und machte eine einladende Handbewegung zum offenstehenden Tor hin. »Tretet ein!« Zum zweitenmal schienen sie eine unsichtbare Grenze zu überschreiten, als sie die Festung betraten. Zuerst waren der Wind und die Kälte am Fuße des Felsens zurückgeblieben. Jetzt war, so kam es Hagen vor, jede Beziehung zur Außenwelt abgerissen. Es war vollkommen dunkel hier drinnen. Die Dunkelheit umgab sie wie eine bedrohliche schwarze Masse. Die Hufschläge der Pferde erzeugten helle, vielfach gebrochene Echos im unsichtbaren Raum. Sie mußten sich in einer Halle oder Höhle befinden. Hier und da schimmerte blasses silbernes licht, von dem Hagen nicht sagen konnte, woher es kam, und unter dem klirrenden Widerhall der Hufschläge glaubte er ferne Stimmen zu hören. Langsam wurde es heller, je weiter sie in den Berg vordrangen. Bald war das Licht nicht mehr blaß und silbern wie gedämpfter Sternenschein, sondern rot und düster und gleichsam warm. Hagen war sich nicht sicher, ob es der Widerschein von Feuer war, von Kohlebecken oder flackernden Fackeln, oder eine Glut, die direkt aus der Erde drang. Da und dort durchzogen Risse den Boden, manchmal gerade, wie mit einem Stock gezogen, manchmal gezackt; erstarrte Blitze im Fels, rot durchzogen wie Adern, aus denen ein Hauch übelriechender warmer Luft drang. Manchmal zitterte der Boden, vielleicht unter den Hufschlägen der Pferde, vielleicht unter ganz anderen Kräften, tief im Innern der Erde. Unwillkürlich mußte Hagen an die Geschichten denken, die man sich über den Isenstein erzählte: Geschichten von Göttern, die vor den Göttern waren und deren Macht nur schlief, nicht besiegt war. Er versuchte den Gedanken abzuschütteln, aber es gelang ihm nicht Etwas blieb zurück, und als er den Kopf wandte und seinen Bruder ansah, wußte er, daß es Dankwart ebenso erging.