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Als das Licht weiter zunahm, konnte Hagen mehr von ihrer Umgebung erkennen. Es war eine Höhle, ein gewaltiger Dom, dessen Decke sich fünfzehn, vielleicht zwanzig Manneslängen über ihren Köpfen erhob, nach oben spitz zulaufend und von übermannsdicken schwarzen Pfeilern aus Lava getragen, die zu glänzenden, faustgroßen Tränen erstarrt war. Am Ende der Halle führte eine breite, aus nur wenigen Stufen bestehende Treppe zu einem verschlossenen Tor, über dem das gleiche Zeichen stand, das Hagen bereits auf den Helmen der Reiterinnen gesehen hatte.

Keiner von ihnen sprach ein Wort, bis sie die Treppe erreichten und Alberich sie mit Gesten aufforderte, abzusitzen. Zwei der Reiterinnen führten ihre Pferde fort, und auch die anderen entfernten sich, so daß Dankwart und Hagen mit Alberich allein zurückblieben. Der Zwerg deutete einladend auf das verschlossene Tor. Hagen rührte sich nicht von der Stelle. »Wo sind Gunther und die anderen?« fragte er.

Alberich zog eine Grimasse. »Gunther wartet auf Euch«, sagte er, »und Siegfried wird wohl in seiner Kammer sein und das tun, was ein aufrechter Christenmensch um diese Zeit eben tut - nämlich schlafen.« Zögernd und alles andere als zufrieden mit dieser Auskunft folgten sie ihm. Alberich hüpfte vor ihnen her die Stufen der Treppe hinauf. Das hohe, mit Kupfer-, Silber- und Goldblech beschlagene Tor schwang wie von Geisterhand bewegt vor ihm auf.

Sie traten auf einen breiten, einer sanften Biegung nach links folgenden Gang, auch er wie anscheinend alles hier aus der schwarzen Lava des Isensteins gehauen und nur roh bearbeitet. Das düstere rote Licht, das sie schon in der Höhle gesehen hatten, erfüllte auch diesen Gang; nur war es hier viel stärker als draußen.

Der Zwerg schien es mit einemmal sehr eilig zu haben. Ungeduldig lief er vor Hagen und Dankwart her, blieb vor einer der Türen stehen und wartete, bis sie herangekommen waren. Diesmal halfen ihm die dienstbaren Geister des Isensteines nicht Alberich schob den Riegel selbst zurück, stieß die Tür auf und huschte hindurch. Dahinter lag wieder ein Gang, dem eine Treppe folgte, die ein Stück in die Tiefe führte, eine Halle - nicht ganz so groß wie die andere -, wieder eine Tür und eine Treppe...

Der Isenstein war ein Labyrinth; ein schier auswegloses Gewirr von mit düsterem roten Licht erfüllten Gängen und Hallen. Treppen, die in die Tiefe, wieder hinauf und kreuz und quer durch den schwarzen Fels führten.

Hagen begann sich mit jedem Schritt unbehaglicher zu fühlen. Es war nicht Furcht, was die rote Wärme und die glasige schwarze Lava des Isensteines in ihm weckten, sondern etwas, was fast schlimmer war. Das Gefühl, sich nicht mehr in seiner Welt zu befinden; über einen Boden zu schreiten, den die Götter beschritten hatten und den die Füße von Sterblichen entweihen mußten. Er und sein Bruder - jedoch nicht Alberich - waren fremd hier, fremd in einem besonderen Sinn. Sie beide hätten das Innere des Berges nie schauen, ihr Atem hätte das zeitlose Schweigen des Isensteines nie stören dürfen. Der Isenstein war das Tor zur Unterwelt, nicht die Pforte zu Walhalla. Die ihn erschaffen hatten, waren zornige Götter gewesen.

Endlich, nach einer Ewigkeit, wie es schien, blieb Alberich stehen und deutete auf eine Tür. Sie waren wieder in einem Gang, und wie der, durch den sie das Labyrinth betreten hatten, war auch er sanft nach links gekrümmt. Bei aller Verwirrung und Beklemmung war dies doch etwas, was Hagen aufgefallen war: sie bewegten sich im Kreis. Die Gänge und Stollen des Isensteines schienen wie das Haus einer riesigen steinernen Schnecke gewunden zu sein.

»Tretet ein, Hagen von Tronje«, sagte Alberich. »Euer König erwartet Euch.«

Aus dem Augenwinkel sah Hagen, wie Alberich abwehrend den Arm hob, als auch Dankwart auf die Tür zutreten wollte. »Ihr nicht, Dankwart«, sagte der Zwerg »Was soll das heißen?« fragte Dankwart scharf.

»Das soll heißen, daß es Gunthers ausdrücklicher Wunsch war, zuerst allein mit Eurem Bruder zu reden«, antwortete Alberich. Dankwart wollte auffahren, aber Hagen trat mit einem raschen Schritt zwischen ihn und den Zwerg und hob besänftigend die Hand. »Nicht Dankwart«, sagte er. »Wenn es Gunthers Wunsch ist, müssen wir gehorchen.«

Sein Bruder starrte ihn an. Aber dann nickte er; wahrscheinlich war er einfach zu müde, den Streit fortzusetzen.

»Kommt mit mir«, sagte Alberich. »Ich führe Euch in Eure Kammer. Einen Luxus wie in Tronje oder gar in Worms dürft Ihr freilich nicht erwarten.«

Dankwart drehte sich wortlos um und folgte dem Zwerg. Hagen wartete, bis ihre Schritte verhallt waren. Dann erst öffnete er die Tür. Gunther saß mit dem Rücken zu ihm in einem hochlehnigen Stuhl und war eingeschlafen, als Hagen eintrat. Hagen schob vorsichtig die Tür hinter sich ins Schloß und nutzte die Gelegenheit, sich in dem halbrunden Raum umzusehen.

Er wußte nicht, ob er enttäuscht oder zornig sein sollte. Dies war kein Gemach, das eines Königs würdig gewesen wäre. Boden, Wände und Decke - es gab kein Fenster - bestanden auch hier aus der allgegenwärtigen schwarzen Lava, aber jemand hatte sich die Mühe gemacht, den Raum wenigstens halbwegs wohnlich herzurichten: Es gab ein Bett, mit seidenen Laken und Kissen bedeckt, einen Tisch und einige klobige Stühle; dazu eine Truhe, deren Deckel offenstand, so daß Hagen sehen konnte, daß Gunther seine Kleider darin untergebracht hatte. Neben der Tür hing eine der großen metallenen Runen und an der gegenüberliegenden Wand ein Schild, so hoch wie ein Mann und aus fingerdickem Metall gefertigt. Hagen sah alles mit dem geübten Blick eines Mannes, der gewohnt war, jede noch so kleine Einzelheit seiner Umgebung wahrzunehmen, und der gelernt hatte, daß Dinge, die kaum der Beachtung wert schienen, sich als lebenswichtig herausstellen konnten. Flüchtig untersuchte er die Kammer nach einem zweiten, geheimen Eingang - er fand keinen, was nicht hieß, daß es keinen gab -, trat leise an Gunthers Stuhl und hob die Hand, um ihn zu wecken.

Aber er führte die Bewegung nicht aus, sondern blieb reglos stehen und sah auf Gunther von Burgund hinab.

Der König von Worms hatte sich verändert. Es war ein Jahr her, daß Hagen ihn gesehen hatte, und die vergangene Zeit und die Reise hierher mochten ihm viel abverlangt haben. Trotzdem erschrak Hagen, als er in sein Gesicht sah.

Gunther sah alt aus, viel älter, als er war, und in die vertraute Weichheit seines Antlitzes hatte sich ein neuer, bitterer Zug gegraben. Er war blaß, und unter seinen Augen lagen tiefe dunkle Ringe, die von zu vielen durchwachten Nächten kündeten. Seine Hände, die auf den geschnitzten Lehnen des Stuhles lagen, zitterten leicht im Schlaf. Sein Atem ging schnell und ein wenig unregelmäßig, wie der Atem eines Menschen, den üble Träume plagten.

Hagen mußte doch ein Geräusch verursacht haben, vielleicht spürte Gunther auch einfach seine Nähe. Plötzlich fuhr er im Schlaf zusammen, legte den Kopf auf die andere Seite und öffnete die Augen. Für einen kurzen Moment war sein Blick noch verschleiert, dann klärte er sich, und ein Ausdruck von Schrecken und jäher, ungläubiger Freude blitzte in seinen Augen auf.

»Hagen«, rief er. Er sprang auf, umschlang den Tronjer mit den Armen und drückte ihn an sich. »Hagen, mein Freund, daß du gekommen bist.« Hagen ließ Gunthers stürmische Begrüßung eine Weile über sich ergehen, dann befreite er sich mit sanfter Gewalt aus dessen Umarmung, trat einen halben Schritt zurück, senkte das Haupt und beugte das Knie. »Ihr habt mich gerufen, mein König. Ich bin gekommen«, sagte er. Einen Moment lang blickte Gunther auf Hagen hinab, als wüßte er nicht, wovon er redete. Dann schüttelte er den Kopf und gebot ihm mit einer ungeduldigen Geste aufzustehen.