»Was soll der Unsinn, mein Freund«, sagte er. »Wir sind hier nicht bei Hofe. Knie vor mir, wenn es die Hofsitte erfordert, nicht wenn ich deine Hilfe brauche.« Er lachte. Dann maß er Hagen mit einem langen, ernsten Blick.
»Daß du wirklich da bist.« Er schöpfte tief Atem. »Brunhild berichtete mir, ihre Späher hätten Männer gesehen, die von Süden her kämen. Aber ich wagte kaum zu hoffen, daß du es seist Nicht so schnell«, fügte er hinzu.
»Ich kam, so schnell ich konnte«, antwortete Hagen. »Die See war stürmisch und der Wind gegen uns.«
»Du bist hier«, sagte Gunther, »nur das zählt Bist du allein gekommen oder in Begleitung?« Hagen zögerte. Sollte er Gunther alles erzählen; angefangen mit Arnulfs Schiffbruch vor den Küsten Tronjes bis hin zu dem heimtückischen Überfall der vergangenen Nacht? Aber dann fiel ihm Alberichs Warnung ein, und er schüttelte verneinend den Kopf. »Mein Bruder Dankwart begleitet mich«, sagte er. »Wir sind allein. Es war nicht leicht, ein Schiff zu finden, das uns herbrachte. Und wir hatten nicht viel Zeit.« »Ein Schiff?« wiederholte Gunther fragend. »Was ist mit dem Dänen, den ich euch sandte?«
»Das Schiff ist im Sturm vor Tronje gestrandet«, erklärte Hagen ausweichend. »Aber sein Kapitän konnte mir Eure Botschaft überbringen. Ihr braucht Hilfe?«
»Hilfe.« Gunther betonte das Wort auf sonderbare Weise. »Ja«, sagte er dann. Er lächelte und ließ sich mit einer erschöpften Bewegung wieder in den Stuhl sinken. »Vielleicht auch nicht. Vielleicht brauche ich auch nur die Nähe eines Freundes.«
»Aber was ist geschehen, Gunther?« fragte Hagen. In Gunthers Stimme war ein Ton, der ihn beunruhigte.
»Viel, mein Freund«, antwortete Gunther. »So viel, seit du fortgegangen bist«
»Ihr habt Brunhild gesehen?«
Gunther nickte. »Sie ist hier«, sagte er. »Du wirst sie sehen, gleich morgen früh. Sobald die Sonne aufgegangen ist« Er zögerte kaum merklich, aber Hagen merkte es doch. »Wenn die Prüfungen beginnen.« »Die Prüfungen.« Hagen machte aus seinem Erschrecken kein Hehl. »Ihr wollt es also wirklich tun.«
»Ich muß, Hagen«, antwortete Gunther. »Ich bin zu weit gegangen, um noch zurückzukönnen. Der Weg aus dem Isenstein hinaus führt durch die Halle der Prüfungen. Oder nach Walhalla«, fügte er mit einem Lächeln hinzu.
Hagen schwieg. Er blickte auf das Kreuz, das Gunther auch jetzt an einer silbernen Kette um den Hals trug. Aber er sagte nichts darauf. »Du siehst nicht sehr froh aus, mein Freund«, sagte Gunther. Hagen versuchte zu lächeln. »Ich habe wenig Grund dazu«, sagte er. »Ihr wißt, daß noch keiner die Prüfungen überlebt hat, die die Walküre verlangt.«
Plötzlich lachte Gunther, scheinbar ganz grundlos; dabei so ehrlich, daß es Hagen verwirrte. »Das ist es, was du fürchtest?« fragte er. »Du hast Angst vor morgen und den Prüfungen? Du fürchtest um mein Leben?« »Was sonst?« fragte Hagen verständnislos. »Aus welchem anderen Grund habt Ihr mich rufen lassen?«
»Die Prüfungen«, sagte Gunther, nun wieder ernst. Er erhob sich abermals aus seinem Stuhl und legte Hagen die Hand auf die Schulter. Seine Berührung war warm und voller Freundschaft. »Kennst du mich so schlecht? Ich fürchte Brunhilds Prüfungen nicht, denn ich weiß, daß ich sie bestehen werde. Ich gehöre nicht zu denen, die einen Tod wie diesen sterben; einen Tod, von dem die Spielleute noch in hundert Jahren sängen.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, Hagen«, sagte er. »Das Schicksal meint es nicht so gut mit mir, mir ein ehrenvolles Ende unter Brunhilds Schwert zu gönnen. Was ich fürchte, sind weder ihre Waffen noch ihr Zauber.«
»Was sonst?« fragte Hagen.
Gunther nahm die Hand von Hagens Schulter, wandte sich mit einem Ruck um und ging zum Tisch. Hagen sah, wie seine Finger zitterten, als er den Becher hob und einen Schluck Wein trank. »Siegfried«, sagte er schließlich. Es schien ihm schwerzufallen, den Namen auszusprechen, und er wich Hagens Blick aus. O ja, dachte Hagen. Du fürchtest Siegfried, mein Freund, und du hast allen Grund dazu. Ich kann dich verstehen, denn auch ich habe nicht aufgehört, ihn zu fürchten. Aber er sprach seine Gedanken nicht aus, sondern wartete, bis Gunther einen weiteren Schluck Wein getrunken hatte und von selbst zu erzählen begann.
»Du hättest nicht fortgehen dürfen, Hagen«, sagte Gunther leise und in vorwurfsvollem Ton. »Ich ... ich weiß nicht, Worms ... ist nicht mehr die Stadt, die es war...«
Er schenkte sich aus einem irdenen Krug Wein nach. »Alles wurde anders, nachdem du gegangen warst«, fuhr er fort. »Kriemhild...« Er stockte.
»Kriemhild?« Hagen erschrak. »Was ist mit ihr?«
»Sie weiß noch immer nicht, was damals während der Siegesfeier über die Sachsen wirklich geschehen ist, zwischen Siegfried, dir und mir. Aber sie spürt es, und sie gibt mir die Schuld daran.«
»Unsinn«, sagte Hagen. »Es war ganz und gar meine Idee. Mein Plan.« Gunther winkte ab. »Darum geht es nicht Kriemhild ist meine Schwester, und als ihr ältester Bruder bin ich in ihren Augen für ihr Schicksal verantwortlich.« »Und wenn ich es ihr sage?« »Würde sie dir nicht glauben«, entgegnete Gunther. »Und wenn, so würde es an der Sache nichts ändern.« Er seufzte. »Aber es ist vorbei, so oder so. Wenn wir nach Worms zurückkehren, werde ich Siegfried Kriemhilds Hand geben.«
Hagen durchzuckte ein Schreck, tiefer und schmerzlicher, als er hätte sein dürfen. »Das darf nicht geschehen!« rief er.
»Es gibt keinen Weg mehr, es zu verhindern«, antwortete Gunther traurig. »Er hat mein Wort, Hagen, hast du das vergessen?« »Ihr hättet es ihm niemals geben dürfen«, sagte Hagen düster. In Gunthers Augen blitzte es auf. »Nein, ich hätte es ihm nicht geben dürfen«, sagte er zornig. »Ich hätte nicht zulassen dürfen, daß Siegfried nach Worms kam. Ich hätte nicht zulassen dürfen, daß er Kriemhild überhaupt zu Gesicht bekam. Ich hätte nicht zulassen dürfen, daß Siegfried an unserer Stelle gegen die Sachsen stritt, ich...« Er preßte die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen und funkelte Hagen an, aber sein Zorn galt vor allem sich selbst »Ich habe Fehler gemacht«, sagte er abschließend. »Zu viele Fehler.« »Auch ich habe versagt«, sagte Hagen leise. »Ich war dazu da, Euch zu helfen.«
»Ja«, murmelte Gunther. »Vielleicht ist es so. Vielleicht zahlen wir jetzt den Preis. Ich dafür, auf einen Thron gesetzt worden zu sein, der mir zu groß war, und du dafür, ein Freund gewesen zu sein.« Er schwieg, und nach einer Weile räusperte sich Hagen und brachte das Gespräch wieder auf den eigentlichen Grund seines Hierseins zurück. »Und was geschieht jetzt?« fragte er.
Gunther trank einen Schluck Wein. »Morgen früh«, sagte er, ohne Hagen dabei in die Augen zu sehen, »wenn die Sonne aufgeht, werden mich Brunhilds Walküren in die Halle der Prüfungen führen, damit ich mich der Herausforderung stelle. Danach werden wir nach Worms zurückkehren, und am gleichen Tage, an dem ich Brunhild heirate, wird Siegfried meine Schwester zum Weibe nehmen.«
»Wie wollt Ihr die Prüfungen bestehen?« fragte Hagen. »Noch keinem Manne ist es gelungen, Brunhilds Bedingungen zu erfüllen. Aber Ihr scheint Euch sicher zu sein.«
»Ich bin sicher«, antwortete Gunther. »Denn einen Mann gibt es, der der Walküre schon einmal widerstanden hat.« »Siegfried?« Gunther nickte. »Und er wird sie wieder besiegen. Für mich.«
»Ihr wollt sagen, daß Siegfried...«
»An meiner Stelle kämpfen wird, ganz recht«, bestätigte Gunther. »An Eurer Stelle...« wiederholte Hagen verständnislos. »Ihr ... Ihr meint, Brunhild würde es zulassen, daß ...«
»Brunhild weiß von nichts«, unterbrach ihn Gunther. »Und sie wird es auch nicht erfahren. Niemand weiß es, außer Siegfried, dir und Alberich. Morgen früh wird Siegfried von Xanten in die Halle der Prüfungen gehen und an meiner Stelle gegen Brunhild kämpfen. Und sie besiegen.« »Aber das ist... unmöglich«, murmelte Hagen. »Ihr könnt nicht im Ernst glauben, daß Brunhild auf diesen Schwindel hereinfällt.« »Warum nicht?« sagte Gunther ruhig. »Hast du deine eigenen Worte vergessen? Kein Sterblicher ist Brunhilds Zauber gewachsen, erinnerst du dich?« Er schürzte die Lippen, und als er weitersprach, klang seine Stimme rauh. »Du hattest recht, Hagen. Seit ich dieses verwunschene Land und diese Burg betreten habe, weiß ich, daß du recht hattest. Niemand ist ihr gewachsen, weder mit Schwert noch Speer, noch mit der bloßen Hand. Kein Sterblicher. Außer Siegfried.« »Wozu das Ganze?« fragte Hagen zornig. »Um Brunhild zu erobern? Ihr ... Ihr verkauft Eure Ehre und die von ganz Worms ...« Gunther legte den Kopf in den Nacken und atmete tief ein. »Siegfrieds Vorschlag abzulehnen, wäre von allen der größte Fehler gewesen.« »Warum?« fragte Hagen leise.