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»Was ist dir?« Grimwards Stimme klang beunruhigt, und Hagen wurde sich bewußt daß ihm seine Verwirrung anzusehen war. Er spürte, wie sich seine Kiefer verkrampften. Aber es war ihm unmöglich zu antworten. Es war, als wäre plötzlich alle Kraft aus ihm gewichen. Grimward trat einen Schritt auf ihn zu. »Hagen«, sagte er und wiederholte besorgt: »Was ist dir?«

»Nichts«, antwortete Hagen mühsam, und dann lauter: »Es ist nichts. Ich habe meine Meinung geändert, das ist alles. Wir waren sechzig Tage unterwegs und sollten sehen, daß wir so schnell wie möglich nach Hause kommen.« »Aber...«

»Es spielt keine Rolle, wie wir aussehen, Grimward. Wer erlebt hat, was wir erlebt haben, hat ein Recht darauf, müde zu sein.« Für einen Moment hatte Hagen das Gefühl, daß die dunklen Augen des Langobarden direkt in seine Seele blickten und ihre tiefsten Geheimnisse ergründeten. Für einen winzigen Moment war er verwundbar geworden, und wie ein Kämpfer, der sich zu sehr auf einen starken Schild und die Festigkeit seines Panzers verlassen hatte, war er darunter empfindlich und leicht zu verletzen. Was geschieht mir? dachte er erschrocken. War das ein Traum? Hatte ihn die Erschöpfung übermannt so daß er nicht mehr zwischen Einbildung und Wahrheit unterscheiden konnte? Doch dann ballte er die linke Hand zur Faust und spürte den Schmerz und den Verband unter dem Handschuh, und er wußte, daß alles weder ein Traum noch eine andere Art von Trugbild gewesen war. »Laß die Männer aufsitzen«, befahl er. Seine Stimme klang spröde. Grimward nickte. Sein Blick ging an Hagen vorbei, und er starrte auf den Hügel, als ahnte er, daß sich jenseits dieser Anhöhe irgend etwas zugetragen hatte, das für die plötzliche Veränderung in Hagens Wesen verantwortlich war. Aber er schwieg. »Sitzt auf«, befahl Hagen noch einmal bestimmter, und Grimward gehorchte. Hagen sah ihm nach, und für einen Augenblick tat ihm sein rüder Ton leid. Doch auch dieses Gefühl verging rasch. Er wandte sich um, zog sich mit einer kraftvollen Bewegung in den Sattel und legte die Hand beruhigend zwischen die Ohren des Pferdes, als das Tier den Kopf hob und scheuen wollte. Auch die anderen saßen auf, ohne Zögern und ohne zu murren. Nicht einmal in ihren Blicken war eine Spur von Widerspruch oder Trotz zu lesen, obwohl sie eine längere Rast bitter nötig gehabt hätten. Aber ihre Bewegungen waren hölzern und starr, und Hagen spürte plötzlich die tiefe Kluft, die trotz allem zwischen ihm und diesen Männern - selbst Grimward - bestand. Vielleicht war es gerade der Umstand, daß niemand widersprach oder murrte, der ihm dies deutlich machte. Und er begriff, daß es ihm niemals wirklich gelingen würde, die Kluft zu überwinden.

Sie ritten los, zuerst langsam, dann, als die Pferde ihren gewohnten Trab wiedergefunden hatten und ihre Muskeln wieder warm und geschmeidig geworden waren, schneller. Der Platz, an dem sie gerastet hatten, fiel rasch hinter ihnen zurück und verschwand schließlich hinter einer Biegung des Ufers. Der kalte Atem des Flusses hüllte sie ein, aber die Sonne stieg langsam höher, und nach und nach gewannen ihre Strahlen an Kraft und Wärme, so daß ihre Kleider und das klamme Sattelzeug zu trocknen begannen. Aber nach einer Weile zogen wieder graue Regenwolken auf; kurz darauf begann es zu nieseln.

Hagen senkte den Kopf, um sein Gesicht vor den nadelspitzen Regentropfen zu schützen, die ihm der Wind eisig entgegenpeitschte. Das Flußufer wurde morastig, der Regen mußte, je weiter flußabwärts, um so länger und heftiger gefallen sein. Die Pferde kamen immer öfter aus dem Tritt, und Hagen begann sich ernsthaft zu sorgen, daß einer der Männer aus dem Sattel stürzen und sich verletzen könnte. Nach einer Weile gab er ein Zeichen, vom Fluß abzuweichen und, parallel zu ihm, aber ein Stück weiter landeinwärts weiterzureiten. Der Regen nahm zu, und auch der Wind wurde schärfer und kälter. Normalerweise hätte Hagen die Männer jetzt irgendwo anhalten und Rast machen lassen, bis sich der Sturm ausgetobt hatte oder wenigstens seine ärgste Wut gebrochen war. Aber irgend etwas trieb ihn weiter, zurück nach Worms. Fast als müsse er sich davon überzeugen, daß dort trotz der Prophezeiung der Alten noch alles zum besten stand.

Weiter und weiter ritten sie nach Norden, ohne die geringste Pause einzulegen, sprengten über Wiesen und morastige Felder, brachen durch Unterholz und Gestrüpp und wichen nur dann von der direkten Richtung ab, wenn ihnen ein Bachlauf, ein Felsen oder ein Hügel, der zu steil war, um die Pferde im vollen Galopp hinaufzujagen, den Weg versperrten. Die Entfernung zu den schützenden Mauern der Stadt schmolz zusehends, und je mehr sie sich der Stadt näherten, um so häufiger wurden die Anzeichen menschlicher Besiedlung in der über weite Strecken unberührten Landschaft rechts und links des Rheines. Die ersten Häuser tauchten vor ihnen auf, einzeln dastehende Gehöfte, Hütten und Katen zumeist, noch keine Stadt, wohl aber ihre ersten Vorboten; Radspuren und Trampelpfade kreuzten ihren Weg, da und dort zogen sich Kotspuren von Pferde- oder Ochsengespannen durch den Schneematsch und Schlamm, und auf der anderen Seite des Flusses bog sich die schwarze Rauchfahne eines Kohlenmeilers im Wind: alles deutete darauf hin, daß sie sich dem Herzen des Reiches näherten. Dann sprengten sie quer über eine sumpfige Wiese und erreichten einen Weg, der sich, dem natürlichen Verlauf der Landschaft folgend, zwischen Hügeln und Feldern dahinschlängelte. Auch er war vom strömenden Regen aufgeweicht und in knöcheltiefen Morast verwandelt worden, aber die Pferde kamen trotzdem besser voran, und Hagen, der an der Spitze der Kolonne ritt, steigerte ihr Tempo noch. Er nahm jetzt keine Rücksicht mehr auf Dörfer oder Höfe, sondern jagte auf dem kürzesten Wege ihrem Ziel entgegen. Wo sie auf Menschen trafen, sprengten sie an ihnen vorüber und beachteten die verwunderten - mitunter wohl auch furchtsamen - Blicke nicht, die Männer, Frauen und Kinder dem zerlumpten und waffenklirrenden Reitertroß nachschickten, der ein schwaches Echo des Krieges und der Not in ihre geordnete und friedliche Welt brachte. Und endlich lag Worms vor ihnen. Der Fluß, an dessen Ufer die Reiter wieder zurückgekehrt waren, wälzte sich in einer schwerfälligen Biegung in seinem breiten Bett, und die graubraunen Sandsteinmauern der Festung erhoben sich vor ihnen, mächtig und düster und dennoch der Inbegriff alles dessen, was sie in den letzten Tagen und Wochen so schmerzlich entbehrt hatten. Die braungelben Strohdächer des Marktfleckens, der vor den Toren der Burg lag und in den letzten Jahren zu einer kleinen Stadt angewachsen war, wirkten verloren und winzig; ein düsteres Gemälde, in dem ein geschickter Maler versucht hatte, den scheidenden Winter einzufangen. Über den Zinnen der Burg wehten bunte Wimpel und Fahnen im Wind, nicht mehr als Farbkleckse über die Entfernung hinweg, bunten Vögeln oder Sommerblumen gleich, die den Winter überlebt hatten und den Frühling begrüßten. Die Helme der Wächter in den Wehrgängen und auf den Türmen schimmerten im Licht der Mittagssonne, die sich durch die Wolken gekämpft hatte, und der Wind trug durch das Rauschen des Flusses den dünnen Ton eines Fanfarenstoßes heran. Die heimkehrenden Reiter waren gesichtet worden, und allem Anschein nach erwartete man sie bereits. Die Botschaft von ihrem Kommen war ihnen vorausgeeilt.

In einer weit auseinandergezogenen Kette näherten sie sich der Stadt und sprengten auf der breiten, roh mit Kopfsteinen gepflasterten Straße auf die Festung zu. Sie jagten, ohne ihr Tempo zu zügeln, in die Stadt hinein und auf die kaum eine Pfeilschußweite entfernten Tore der Festung zu. Auch hier sahen die Menschen überrascht auf und sprangen beiseite, obwohl der Anblick der Reiter für sie nicht so ungewohnt und erschreckend war wie für die Menschen in den weiter entlegenen Ansiedlungen; eine Mutter zog hastig ihr Kind von der Straße, jemand warf einen Fensterladen oder eine Tür zu, und auf halbem Wege versuchte ein keifender Bauer, seine beiden Ochsen zum Weitergehen zu bewegen, die mit ihrem Wagen die Straße blockierten. Hagen ritt unbeirrt weiter, sein Pferd setzte mit einem ungeschickten Sprung über die Deichsel des Ochsenkarrens hinweg. Der Ruck schleuderte Hagen beinah aus dem Sattel; das erschöpfte Tier verlor auf dem regennassen Kopfsteinpflaster fast das Gleichgewicht. Aber es fand wieder in seinen gewohnten Tritt zurück und griff nun von selbst schneller aus, als es seine gewohnte Umgebung wiedererkannte und den Stall witterte. Hinter ihm schrie der Bauer erschrocken auf und brachte sich in Sicherheit, als Hagens Begleiter wie ein Sturmwind an ihm und seinem Gespann vorüberbrausten. Das Hämmern der Pferdehufe wurde dumpfer und grollte plötzlich wie Donner, als sie auf die heruntergelassene Zugbrücke ritten. Aus dem Burggraben wehte ihnen ein kalter Hauch wie eine eisige Begrüßung entgegen, und Hagen stellte mit einem raschen, gewohnheitsmäßigen Blick fest, daß auf dem Wasser noch eine dünne Eishaut glitzerte. Das Fallgatter war halb hochgezogen und das zweiflügelige, mit Eisen beschlagene Tor weit geöffnet. Einer der beiden Wächter hob die Hand zum Gruß und trat beiseite, um Hagen und seine Begleiter vorüberzulassen. Aber Hagen zügelte sein Pferd und brachte es mit einem Ruck zum Stehen. Neben ihm zügelte Grimward sein Pferd, und die anderen hinter ihnen.