»Eine geringere, meine Königin«, erwiderte Hagen mit einer leichten Verbeugung, die es ihm ermöglichte, Brunhilds Blick auszuweichen, ohne unhöflich oder schwach zu erscheinen. »Denn ich geleite die Frauen, die meinen Weg kreuzen, nicht nach Walhalla.«
Wieder lachte sie, leise diesmal, und hob die linke Hand. Hagen hörte, wie die Kriegerin hinter ihm aus ihrer Starre erwachte und den Raum verließ, so daß er nun mit Brunhild allein war.
»Ihr seid ein sonderbarer Mann, Hagen von Tronje«, sagte Brunhild. »Ihr nennt mich, die Ihr noch nie gesehen habt, Eure Königin, und im gleichen Atemzug beleidigt Ihr mich.« Sie winkte ab, als Hagen antworten wollte. »Widersprecht mir nicht, Hagen, denn dies wäre eine neue, schwere Beleidigung.« Hagen senkte den Blick. »Verzeiht, meine Königin«, sagte er. Brunhild nickte leicht »Ich nehme Eure Entschuldigung an, Hagen von Tronje«, sagte sie. »Kommt näher - oder zieht Ihr es vor, mit einem Schatten zu reden?«
Einen Moment lang war Hagen verwirrt, aber dann begriff er, daß die Anordnung von Thron und Fenster, die Fackeln, das Spiel von Licht und Dunkel, daß nichts davon Zufall war. Statt hinter Zepter und Krone oder dem geschlossenen Visier eines Helmes verbarg sich Brunhild hinter einem Schleier aus tausend Schatten. Die Aufforderung, hinter diesen Schleier zu blicken, mußte eine große Ehre bedeuten. Hagen war sicher, daß sie Gunther nicht zuteil geworden war.
Zögernd trat er näher. Abermals hob Brunhild die Hand, und bei seinem nächsten Schritt teilte sich der Schleier, und zum ersten Male konnte er Brunhilds Gesicht und ihre Gestalt erkennen.
Brunhild war eine Frau von altersloser Schönheit, ganz anders als die Lieblichkeit und zartgliedrige Zerbrechlichkeit Kriemhilds, groß und schlank, mit dunklem, von einem schmucklosen beinernen Kamm zurückgehaltenem Haar. Es war nicht die Schönheit eines jungen Mädchens, sondern die einer Göttin. Brunhild ließ ihm Zeit, sie zu betrachten, und nutzte ihrerseits die Gelegenheit, ihn mit der gleichen unverhohlenen Neugier zu mustern. Es dauerte lange, dies gegenseitige Betrachten, und Hagen durchzuckte der Gedanke, daß sie sich in gewisser Weise ebenbürtig waren. Schließlich nickte Brunhild wie zur Bestätigung. »Ich habe viel von Euch und Euren Taten gehört, Hagen von Tronje«, sagte sie.
Sie schwieg einen Moment und fuhr dann in freundlichem, mehr zu sich selbst gewandtem Ton fort: »Was ich gehört habe, hat mich an einen Mann denken lassen, der mir sehr ähnlich sein muß, und ich sehe, daß es stimmt Wir hätten gut zueinander gepaßt, glaube ich. Schade, daß nicht Ihr es seid, der hergekommen ist, um sich den Prüfungen zu stellen, sondern dieser Narr Gunther. Wer weiß, vielleicht hättet Ihr sie sogar bestanden.« Sie seufzte. »Aber Ihr wäret nicht Ihr, wolltet Ihr es, und so muß ich Gunther töten, wie alle anderen vor ihm.« Hagen war verwirrt. Es war eine völlig neue Erfahrung für ihn, Worte aus dem Munde einer Frau zu hören, die allenfalls umgekehrt er zu einem Weib gesprochen hätte.
»Ihr scheint... sehr sicher zu sein, Gunther von Burgund besiegen zu können«, sagte er stockend. »Sicher?« Brunhild lächelte. »Ich bin nicht sicher, Hagen. Ich weiß es. Er ist nicht der erste, und er wird nicht der letzte sein, der hierherkommt, um sein Leben zu lassen. Wäre ein Mann wie Ihr gekommen...« »Oder Siegfried«, sagte Hagen.
Brunhilds Augen verdunkelten sich. Plötzlich sah Hagen etwas Neues in ihnen; ein Mißtrauen, das bisher nicht dagewesen war. »Begeht nicht den Fehler, Gunther von Burgund zu unterschätzen«, sagte er ablenkend. »Sein Schwert ist beinahe so gefürchtet wie das meine.« »Und doch werde ich ihn töten«, sagte Brunhild ruhig. »Und das ist auch der Grund, weshalb ich Euch rufen ließ.« Sie beugte ihr Gesicht zu seinem. »Ihr habt Gunther von Burgund die Treue geschworen«, fuhr sie fort. »Aber in weniger als einer Stunde wird er sterben, hier und von meiner Hand.« Sie zögerte einen Moment, dann fragte sie: »Was werdet Ihr tun, Hagen?«
Die Frage überraschte ihn; vielleicht nur deshalb, weil er sich bis zu diesem Moment mit aller Macht dagegen gewehrt hatte, darüber nachzudenken. Gunthers Tod war etwas jenseits aller Vorstellbarkeit »Ich will wissen, woran ich mit Euch bin, Hagen«, sagte Brunhild, da Hagen schwieg. »Ihr seid Gunthers Gefolgsmann und Freund, und Ihr seid ihm so treu wie meine Kriegerinnen mir. Ich will kein Blutbad unter meinen Kriegerinnen, wenn Gunther von meiner Hand stirbt. Und ich will Euch nicht töten müssen.«
Hagen versteifte sich. »Ihr habt kein Recht, so zu reden«, sagte er. »Gunther kam aus freien Stücken hierher. Und er kennt die Gefahr.« »Das ist keine Antwort auf meine Frage.«
»Mein Schwert steht zwischen Gunther und jedem, der ihm Schaden zufügen will«, sagte Hagen. »Vor sich selbst vermag es ihn nicht zu schützen. Aber Ihr werdet ihn nicht töten.«
Brunhild nickte wider Erwarten. »Das ist eine Antwort, mit der ich mich zufriedengeben will«, sagte sie und fügte lächelnd hinzu: »Ich bin froh, mich nicht in Euch getäuscht zu haben, Hagen.« Sie lehnte sich wieder zurück, so daß ihre Schultern und ihr Haar mit dem schwarzen Holz des Thronsessels zu verschmelzen schienen. »Und nun geht«, sagte sie. »Es ist nicht mehr viel Zeit, bis ich Gunther gegenübertreten werde, und es sind noch Vorbereitungen zu treffen.«
8
Die Halle der Prüfungen war ein Krater, rund wie ein Kessel, mit schwarzen, schräg abfallenden Wänden, in die geduldige Hände Reihen um Reihen steinerner Sitze gemeißelt hatten, überspannt von einem Dach aus Wolken, der Boden ein Schacht, selbst bodenlos und von düsterer Glut erfüllt, von einem drei Manneslängen breiten Ring sorgsam geglätteter Lava umgeben.
Es war kalt, trotz der erstickenden, nach Schwefel riechenden Hitze, die aus dem Schacht emporfauchte. Die Gesetze der Natur schienen außer Kraft gesetzt, ließen Kälte und Wärme gleichzeitig und am selben Ort existieren.
Hagen fror; zugleich schmerzte sein Gesicht vor Hitze. Wieder hatte er das Gefühl, sich an der Schwelle zu einer anderen Welt zu befinden; einer Wirklichkeit, die nicht mehr ganz die seine, aber auch noch nicht ganz die der Götter Asgårds war. Die Wahrscheinlichkeit, daß keiner von ihnen den heutigen Tag überleben würde, war groß, aber der Gedanke schreckte ihn nicht; er berührte ihn nicht einmal. Ein dumpfer, mehrfach nachhallender Gong riß ihn in die Gegenwart zurück. Hagen sah, daß sich am Fuße der Kraterhalle ein Tor öffnete, wie alles hier so geschickt ins natürlich gewachsene Gefüge des Berges eingepaßt, daß Hagen es bisher nicht einmal bemerkt hatte. »Es beginnt«, sagte Dankwart. Hagen spürte, wie die Erregung seines Bruders auf ihn übergriff.
Sein Blick glitt über die steinernen Sitzreihen, die rings um den Krater aus der Lava geschlagen worden waren und den bodenlosen Kessel in ein gewaltiges Amphitheater verwandelten. Sein Bruder und er standen am Rande des Kraters, an der Seite je zwei von Brunhilds Kriegerinnen, die mit ihren goldenen Halbmasken und den wuchtigen Rundschilden, auf die sie sich alle in der gleichen starren Haltung stützten, jedoch eher wie lebensgroße Statuen denn wie Menschen wirkten. Die verhältnismäßig geringe Zahl gerüsteter Frauen, die die Halle bevölkerten, überraschte ihn. Insgesamt zählte Hagen kaum zwei Dutzend Walkürenkriegerinnen. Dankwart hatte Hagens Blick bemerkt, deutete ihn aber falsch. »Ich habe ihn auch schon gesucht«, sagte er. »Siegfried läßt sich viel Zeit. Erstaunlich, wenn man bedenkt, daß sein Freund in einen Kampf auf Leben und Tod geht«
»Er .. • wird nicht kommen«, sagte Hagen ausweichend. Dankwart runzelte die Stirn. »Woher weißt du das?« »Von Gunther«, antwortete Hagen betont ruhig. »Siegfried wartet unten an der Küste. Beim Schiff.« »Beim Schiff?«
Hagen warf einen erschrockenen Blick zu den beiden Kriegerinnen, die hinter seinem Bruder standen. »Nicht so laut«, sagte er leise und fügte hinzu: »Er hat sich entschuldigen lassen mit der Begründung, daß er nicht zusehen will, wie eine Frau mit dem Schwert in der Faust kämpft.« Dankwart starrte ihn ungläubig an.