»Hagen!« rief Dankwart. »Wie...?« Er beugte sich vor und spähte mit eng zusammengepreßten Augen auf die Zielscheibe und die hoch aufgerichtete Gestalt des Schützen. Ein ungläubiger, entsetzter Ausdruck trat auf seine Züge. »Das ... das ist nicht... Gunther«, stammelte er. »Das ist Siegfried!«
»Schweig«, sagte Hagen erschrocken. Er warf einen warnenden Blick in Richtung der beiden Wächterinnen und flüsterte kaum hörbar: »Natürlich ist es nicht Gunther! Es ist Siegfried. Hältst du Gunther für einen solchen Narren, sich einzubilden, den Zweikampf mit der Walküre zu gewinnen?« Dankwart rang sichtlich um Fassung. »Aber warum...?« »Es war Siegfrieds Plan, von Anfang an! Um Gunther zu ermöglichen, Brunhild zum Weibe zu nehmen«, erklärte Hagen. »Stell dich nicht dumm! Du warst dabei, als Gunther ihm diese Bedingung nannte.« Dankwart nickte. »Aber ich ... verstehe nicht...« murmelte er. »Wie kann sich Brunhild auf einen solchen Vorschlag...« »Brunhild weiß von nichts!« fiel ihm Hagen ins Wort. »Aber wenn du noch ein wenig lauter sprichst, wird sie es zweifellos bald erfahren.« Er brach ab und deutete in den Krater hinunter. Der dritte und schwerste Teil der Prüfung - der eigentliche Kampf - begann. Brunhild zog langsam ihr Schwert aus dem Gürtel, trat einen Schritt auf Siegfried zu und hob den Schild, bis er ihr Gesicht bis zu den Augen bedeckte. Schon daraus erkannte Hagen die geübte Kämpferin. Hätte sich unter dem blitzenden Visier des Burgunderhelmes wirklich Gunther verborgen, hätte sein Leben jetzt nur noch nach Augenblicken gezählt Auch Siegfried war Brunhilds Bewegung nicht entgangen. Hagen sah, wie er Schwert und Schild ein wenig fester ergriff; gerade genug, um zu zeigen, daß spätestens jetzt aus dem Spiel Ernst wurde. »Sie wird es merken«, flüsterte Dankwart »Sie muß es einfach!« »Niemand wird etwas merken«, antwortete Hagen. »Alberichs Zauber schützt ihn.« »Alberichs Zauber?«
Hagen antwortete nicht, sondern konzentrierte sich jetzt ganz auf das Geschehen unten auf dem Kampfplatz.
Siegfried und Brunhild hatten begonnen, sich in geringem Abstand zu umkreisen, wie zwei Wölfe, die eine verwundbare Stelle ihres Gegners suchten. Ab und zu zuckte eine Schwertklinge vor, prallte gegen Stahl oder den hastig hochgerissenen Rand des gegnerischen Schildes, aber keiner der Hiebe war wirklich ernst gemeint; es war nur ein Abtasten, eine erste spielerische Kraftprobe. »Und wenn sie ihn tötet?« fragte Dankwart.
»Um so besser«, knurrte Hagen. »Aber das wird sie nicht. Jeden anderen, aber nicht ihn.« Siegfried machte plötzlich einen Schritt nach vorne. Seine Klinge züngelte nach Brunhilds Gesicht, bewegte sich im letzten Moment zur Seite? und schlug gegen Brunhilds Schild. Es war ein sehr kraftvoller Hieb, aber Brunhild versuchte nicht, ihn aufzufangen, sondern wich unter den Schlag zurück, machte einen Ausfallschritt und hieb nach Siegfrieds Fußknöcheln. Gleichzeitig riß sie den Schild in die Höhe, um Siegfrieds Klinge damit zu blockieren. Siegfried wich dem doppelten Angriff geschickt aus. Brunhild setzte nach, schlug aber kein zweitesmal zu, sondern duckte sich hastig hinter ihren Schild und nahm einen weiteren wuchtigen Hieb des Nibelungen hin. »Was tut er da?« flüsterte Dankwart.
»Nur keine Sorge«, antwortete Hagen. »Er spielt nur mit ihr. Er wird siegen.«
»Das ist es ja gerade, wovor ich Angst habe«, sagte Dankwart gepreßt Er deutete in die Runde, auf die Reihen der stumm dastehenden Kriegerinnen. »Brunhild ist nicht nur ein männerhassendes Weib«, sagte er, »sondern auch eine Königin. Was glaubst du, werden sie tun, wenn Siegfrieds Klinge an ihrer Kehle sitzt?«
»Unsinn«, sagte Hagen. Aber es klang nicht überzeugt. Woher nahm er eigentlich die Überzeugung, daß Siegfried den Kampf bestehen würde? Wer sagte ihm, daß Brunhild zuletzt nicht doch siegte? Daß der Weg in den Isenstein nicht immer in den Tod führte? Er versuchte den Gedanken zu verscheuchen. Die beiden Kämpfenden unten näherten sich langsam dem Schlund des Vulkanes. Sie fochten noch immer nicht ernsthaft, auch wenn ihre Hiebe und Konterschläge jetzt schneller kamen und kräftiger geführt wurden. Trotzdem kämpften sie noch nicht wirklich, sondern umschlichen sich weiter. »Sie lockt ihn an den Schacht«, flüsterte Dankwart Aber natürlich hatte Siegfried längst gemerkt, was die Walküre vorhatte, auch mußte ihm klar sein, daß er nicht der erste wäre, dem das feurige Herz des Isensteines zum Grab würde. Eine Weile machte er das Spiel noch mit, dann blieb er so unvermittelt stehen, daß Brunhild, von der Bewegung überrascht, beinahe in eine seiner Paraden hineingelaufen wäre. Ein wütender Schrei drang über Brunhilds Lippen. Sie sprang zurück, verlor um ein Haar das Gleichgewicht und schwang ihre Klinge zu einem mit aller Kraft geführten Streich. Hagen spannte sich unwillkürlich. Er sah, wie Siegfried den Hieb mit einer spielerischen Bewegung auffing, leicht, hoch aufgerichtet, mit gestrecktem Arm und spöttisch gesenktem Schild. Funken stoben, als die beiden Klingen aufeinanderprallten. Ein berstender Schlag; Brunhild taumelte unter der Wucht ihres eigenen Hiebes und fand im letzten Augenblick ihr Gleichgewicht wieder. Siegfried wankte nicht einmal. »Dieser Narr«, sagte Hagen. »Er wird alles zunichte machen, nur weil er jetzt mit seiner Kraft protzen muß!«
»Niemand hier kennt Gunther«, sagte Dankwart. »Und er ist als ausgezeichneter Schwertkämpfer bekannt. Achtung jetzt.« Er deutete nach unten. »Brunhild macht Ernst«
Tatsächlich ließ die Walküre ihrem ersten, machtvollen Hieb weitere folgen. Ihre Klinge fuhr immer schneller auf den Gegner hin, bis Siegfried unter den auf ihn herunterhagelnden Schlägen zu wanken begann und erst einen, dann noch einen und noch einen Schritt zurückweichen mußte.
Der Kampf näherte sich seinem Höhepunkt. Brunhild hatte Siegfried bis an den Rand des Kraters gedrängt; noch ein Schritt, und er mußte auf der zerbröckelnden Lava den Halt verlieren und in die Glut hinabstürzen. Hagen fragte sich, wie lange Siegfried die Entscheidung noch hinauszögern wollte. Die Hitze dort unten mußte unerträglich sein; erst recht unter der dichtgeschlossenen Rüstung, die Siegfried trug. Der Nibelunge schien auch nicht gewillt, den Kampf noch weiter in die Länge zu ziehen. Er wartete, bis Brunhild zu einem neuerlichen Hieb ausholte, machte aber diesmal keinen Versuch mehr, den Schlag aufzufangen, sondern warf der Walküre plötzlich seinen Schild entgegen. Brunhild reagierte genauso, wie er erwartet hatte. Sie riß ihren eigenen Schild hoch, versuchte gleichzeitig einen Schritt zurückzuweichen - und stolperte über Siegfrieds vorgestreckten Fuß. Sie fiel nicht, aber ihre kurze Unsicherheit gab Siegfried Zeit, dem Kampf ein Ende zu bereiten. Mit einer ungemein schnellen Bewegung sprang er vor, schwang seine Waffe mit beiden Händen und ließ sie mit aller Macht auf Brunhilds Schild hinabsausen.
Brunhilds Schild und die Klinge des Nibelungen zersplitterten. Brunhild schrie auf, fiel zu Boden und krümmte sich vor Schmerz. Siegfried trat blitzschnell neben sie, hob ihr eigenes Schwert auf und setzte Brunhild die Spitze an die Kehle. Die Walküre erstarrte, gleichzeitig erstarb jeder Laut im weiten Rund des Kessels. Es war, als hielten nicht nur die goldgepanzerten Kriegerinnen, sondern der Isenstein selbst den Atem an. Sogar das unablässige Brodeln und Zischen der Lava schien für einen Moment zu verstummen. Es war, als hätten die Götter die Zeit angehalten. Hagen spürte, wie sein Herzschlag stockte. Siegfried stand bewegungslos, leicht nach vorne und über die gestürzte Walküre gebeugt, das Schwert mit beiden Händen ergriffen, die Klinge so fest gegen Brunhilds Kehle gedrückt, daß Blut an ihrem Hals hinablief.
Dann kam Bewegung in die Menge. Brunhilds Kriegerinnen, die bisher wie gelähmt hinter Hagen und seinem Bruder gestanden hatten, zogen ihre Waffen. Im Nu war Siegfried im Krater unten von einem Dutzend goldgepanzerter Kriegerinnen eingekreist, die die Spitzen ihrer Speere drohend auf ihn richteten. Siegfried verstärkte den Druck seiner Klinge ein wenig, und das Blut begann heftiger zu strömen. Die Walküre bog den Kopf zurück, so weit sie konnte, gleichzeitig hob sie die Hand. »Haltet ein!« rief Brunhild ihren Kriegerinnen zu. »Und Ihr auch, Gunther von Burgund!«