Einige lange, bange Augenblicke vergingen, dann ertönte ein helles Scharren, als eine nach der anderen aus der kriegerischen Schar ihr Schwert in die Scheide zurückschob. »Geht jetzt«, wiederholte Brunhild.
Die Frauen gehorchten wortlos. Hagen und Dankwart verharrten auf ihren Plätzen, bis die letzte den Saal verlassen hatte und sie mit Brunhild, ihrer Leibwache und Siegfried allein waren. Erst dann entspannten sie sich und traten hinter Gunther zurück Brunhilds Gesicht war wie aus Stein, als sie von ihrem Thron heruntertrat. »Und auch Ihr, Gunther von Burgund, müßt mich entschuldigen«, sagte sie. »Es sind viele Vorbereitungen zu treffen für die Reise.« Gunther nickte steif. »Meine Königin.«
Brunhild ging. Hagen folgte ihr mit den Blicken. Die Walküre hatte endgültig ihre Fassung wiedererlangt. In königlicher Haltung, äußerlich ungebrochen, schritt sie an ihnen vorbei zum Ausgang. Siegfried, der die ganze Zeit über kein Wort gesagt hatte, folgte ihr. »Warum habt Ihr das getan, Gunther?« fragte Hagen heiser. Gunther lächelte dünn. »Ich hatte das Recht dazu, oder?«
»Erwartet Ihr, daß sie Euch dafür liebt?«
»Nein«, antwortete Gunther, »aber wenn sie erst einmal mein Weib ist und eine Weile in Worms gelebt hat...« Er zuckte mit den Achseln. »Wer weiß - vielleicht werden wir Freunde, wenn sie mich schon nicht lieben lernt.«
»Und wenn nicht?« fragte Hagen. »Wenn sie geht?« »Geht?« fragte Gunther leise. »Aber wohin denn, Hagen?« Am nächsten Morgen war das Schiff bereit, wie Gunther es befohlen hatte. Brunhild und ihre beiden Begleiterinnen waren schon an Bord, als Hagen und Dankwart den kleinen Hafen erreichten. Das Schiff lag tief im Wasser, schwer von den Kisten und Truhen, die Brunhilds Dienerinnen an Bord geschafft hatten, und das Segel blähte sich bereits in dem scharfen Wind, der mit dem ersten Grau der Dämmerung aufgekommen war. Das Schiff zerrte an den Ketten und Tauen wie ein Raubtier, das es nicht mehr erwarten kann, endlich ins Meer hinauszuspringen. Hagen fröstelte, er war übernächtigt, denn er hatte die ganze Nacht gegrübelt und kaum Schlaf gefunden.
»Ihr wollt uns wirklich nicht begleiten?« fragte Gunther. Hagen sah zum Bug des Schiffes hinüber, wo Siegfried stand, eine hoch aufgerichtete Gestalt, in einen Mantel aus weißem Bärenfell gehüllt und das Gesicht in den Wind gedreht.
»Nein, Gunther. Dankwart und ich müssen zurück nach Tronje. Wir haben die Burg Hals über Kopf verlassen, und man wird dort in Sorge um uns sein.«
»Ihr könntet eine Nachricht senden«, schlug Gunther vor. »Überlegt es Euch, Hagen. Auf dem Schiff ist noch Platz, und Worms würde sich freuen, Euch wiederzusehen.«
Wieder blickte Hagen zu Siegfried hinüber, und Gunther begriff. »Ich verstehe«, sagte er. »Kein Schiff ist groß genug für Siegfried und Euch.« »Dankwart und ich kommen nach, sobald es geht«, sagte Hagen, einer direkten Antwort ausweichend. »Ihr ... müßt das verstehen. Wir werden in Tronje erwartet.«
»Versprecht Ihr, pünktlich zu meiner und Kriemhilds Hochzeit in Worms zu sein?«
»Wir versprechen es«, sagte Hagen.
»Vergeßt es nicht«, sagte Gunther. »Am Pfingstsonntag dieses Jahres. Ich erwarte Euch mindestens eine Woche davor.« »Wir werden es nicht vergessen.«
Gunther lächelte und streckte Hagen und Dankwart zum Abschied die Hand entgegen. Dann ging er ohne ein weiteres Wort. Hagen blickte ihm nach, bis er die zitternde Flutlinie erreicht hatte und an Bord des Schiffes gegangen war, dann wandte er sich ebenfalls um. Hinter ihm, nur ein paar Schritte entfernt, stand Alberich. Er stand nicht erst jetzt da. Hagen hatte Alberichs Anwesenheit die ganze Zeit über gespürt. Aber er war sicher, daß Gunther den Zwerg nicht bemerkt hatte. Wie so oft. »Du hast mich gerufen«, sagte Alberich.
Hagen war überrascht - er hatte den Zwerg keineswegs gerufen, sondern nur den Wunsch gehabt, mit ihm zu reden. Aber das mochte für Alberich auf dasselbe hinauslaufen.
Hagen hielt sich nicht länger bei dem Gedanken auf. Es war keine Zeit für Grübeleien. Das Schiff würde bald ablegen. »Zwei Fragen«, sagte er knapp. »Beantwortest du sie mir?« Alberich kicherte. »Möglich. Wenn Ihr mir auch eine Frage beantwortet. Also?«»Zum einen«, begann Hagen. »Warum wollte mich Siegfried töten lassen?«
»Wollte er das?«
»Stell dich nicht dumm«, fauchte Hagen. »Du warst dabei, oder? Ohne deine Hilfe wären Dankwart und ich jetzt tot.«
Alberich seufzte. »Und auch so hat nicht viel gefehlt«, sagte er. »Aber Ihr habt Euch tapfer geschlagen. Wißt Ihr, daß das noch keinem gelungen ist? Siegfried glaubt es jetzt noch nicht so richtig. Seine Nibelungen gelten als unbesiegbar.«
»Das ist keine Antwort auf meine Frage«, sagte Hagen ungeduldig. »Warum, Alberich? Warum dieses Gemetzel an unseren Begleitern und der Mordversuch an Dankwart und mir?«
»Eure Begleiter...« Alberich machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das war Pech«, sagte er, und es klang nicht einmal spöttisch. »Der Anschlag galt nur Euch. Die Männer starben, weil Ihr nicht da wart. Aber sie wären auch gestorben, wenn Ihr bei ihnen gewesen wäret. Ihr bringt Unglück, Hagen von Tronje, wißt Ihr das?« »Aber warum das Ganze?«
»Warum, warum?« Alberich seufzte. »Wißt Ihr es wirklich nicht? Es ist ganz einfach. Siegfried wähnte sich am Ziel all seiner Pläne.« Er machte eine weitausholende Geste, die nicht durch Zufall den gewaltigen schwarzen Schatten des Isensteines einschloß. »Er war hier, in Gunthers Begleitung, er wußte, daß er Brunhild besiegen würde, und er wußte, daß nichts und niemand ihn nun noch daran hindern konnte, Kriemhild zu heiraten. Niemand außer Euch.« »Wie meinst du das?« murmelte Hagen.
»Wie ich es sage«, sagte Alberich. »Er war am Ziel. Und dann kamt Ihr. Der einzige Mensch, der seine Pläne durchkreuzen könnte. Sein einziger wirklicher Gegner. Und als er hörte, daß Ihr und Euer Bruder auf dem Wege zum Isenstein wart, sandte er seine Nibelungen aus, Euch zu töten. Es war ein Fehler, und ich glaube, er weiß es. Was mich zu meiner Frage bringt, Hagen. Warum...«
»Erst meine zweite Frage«, fiel ihm Hagen ungeduldig ins Wort. »Ich habe Siegfried beobachtet, zusammen mit Brunhild. Sage mir eines, Zwerg: Brunhild liebt ihn doch. Und selbst ein Blinder hätte gesehen, daß es nicht Gunther von Burgund war, gegen den die Walküre antrat« »Möglich«, antwortete Alberich. »Aber Brunhild nicht. Habt Ihr Gunthers Worte vergessen?« fragte er zornig, und Hagen erkannte, daß Alberich in seinem Stolz verletzt war. Es kränkte den Zwerg, daß Hagen an seinen Fähigkeiten zweifelte. Irgendwie tröstete Hagen dieser Gedanke. Es machte Alberich menschlicher. »Mein Zauber hat sie geblendet«, fuhr der Zwerg mit überschnappender Stimme fort. »Auch wenn Ihr Mühe habt, es zu glauben, Hagen, so war es. Möglich, daß sie irgendwann anfängt nachzudenken und erkennt, was wirklich geschehen ist. Als sie Siegfried gegenüberstand, wußte sie es nicht« »Nun gut, ich glaube dir.«
»Sehr gütig von Euch«, sagte Alberich gereizt »Und jetzt zu meiner Frage: Warum seid Ihr hier, Hagen?«
Hagen antwortete nicht, und als Alberich erkannte, daß er es auch nicht tun würde, blitzte es in seinen Augen zornig auf. »So haltet Ihr Euer Wort?« sagte er. »Zwei Fragen gegen eine, das war die Abmachung.«
Aber Hagen schwieg weiter. Er war hier, weil Gunther ihn hatte rufen lassen, um ihn zu bitten, Siegfried zu ermorden; aus den gleichen Gründen, aus denen der Nibelunge seine schwarzen Schattenkrieger ausgesandt hatte, ihn und seinen Bruder zu töten. Aber das sagte er nicht.
11
Sie hatten die Stadt in weitem Bogen umgangen und näherten sich dem Tor vom Osten her, der dem Rhein abgewandten Seite. Es war noch früh; obgleich es bereits hell geworden war, lag noch Nebel wie grauer Dunst über dem frisch geackerten Feld, und die Luft roch feucht. Hagen zweifelte nicht daran, daß ihr Kommen längst bemerkt worden war; Gunthers Türmer waren wachsam. Aber niemand kam ihnen entgegen, das Tor, einladend offenstehend und mit Wimpeln geschmückt, blieb leer. Hagen hielt noch einmal an, kurz bevor er die Zugbrücke erreicht hatte, und sah zum Rhein hinab. Stadt und Fluß lagen im blauen Licht des Morgens. Wie immer, wenn er für längere Zeit fort gewesen war, schien sich Worms verändert zu haben. Es war keine Veränderung im einzelnen, nichts, worauf er den Finger legen oder was er in Worte fassen konnte. Die Stadt erschien ihm fremd, wenn auch auf eine freundliche Art; aber trotzdem fremd. Es waren Momente wie diese, in denen er begriff, daß es nicht seine Stadt war. »Worauf wartest du?« fragte Dankwart ungeduldig. Hagen lächelte. »Ich sehe mich um.«