Er wäre gerne noch verweilt, denn es war trotz allem eine Art Heimkehr für ihn. Aber Dankwart hatte recht. Sie waren seit acht Tagen im Sattel, und während der letzten Nacht hatten sie nur eine einzige Rast von nicht einmal einer Stunde eingelegt, und auch diese nur, damit sich die Pferde erholen konnten, nicht etwa ihre Reiter.
Der Hufschlag ihrer Pferde ließ das Holz der Zugbrücke dröhnen, und endlich - sie hatten die Burg schon fast erreicht - zeigte sich eine Gestalt im Tor.
Es war ein Mann aus Gunthers Leibwache, den Hagen nicht namentlich, aber von Angesicht kannte, und dieser erkannte Hagen ebenfalls. Einen Moment war er verwirrt, aber dann machte der Ausdruck von Müdigkeit und Unlust auf seinen Zügen Freude Platz; er ließ seinen Speer fallen und lief Hagen und seinem Bruder entgegen. »Hagen von Tronje!« rief er. »Ihr seid angekommen. Endlich!« Hagen sprang aus dem Sattel und ließ es zu, daß der Mann ihn umarmte. Als ihm sein unschickliches Betragen zu Bewußtsein kam, trat der Mann verlegen einen Schritt zurück. »Verzeiht«, sagte er. »Ich war so überrascht, und die Freude...«
»Es ist gut«, sagte Hagen. »Du mußt dich nicht entschuldigen.« Er verstand den Mann, und die ehrliche Freude, die er in seinen Augen las, erfüllte ihn mit Dankbarkeit. Er war der erste, der ihn begrüßte, der erste Mensch, der ihm entgegenkam und ihn in die Arme schloß bei seiner Heimkehr nach Worms. Es tat gut, die Nähe eines Freundes zu spüren. Er wandte sich zu seinem Bruder um und bedeutete ihm abzusitzen. Sodann bat er die Wache, sich um die Pferde zu kümmern. Der Mann nickte eilfertig und griff nach den Zügeln, aber Hagen hielt ihn noch einmal zurück und deutete zur Burg hinauf. »Gunther und die anderen«, sagte er, »sind sie in Worms?«
Die Augen des Mannes leuchteten auf. »Sie sind hier«, antwortete er. »Gunther, Giselher und Gernot und alle anderen, und viele edle Gäste dazu. Der König wartet bereits voll Ungeduld auf Euch.« Hagen nickte und trat beiseite, um den Mann und die beiden Pferde vorbeizulassen. Dann sah er sich aufmerksam um. In den Mauern der Burg herrschte noch graue Dämmerung. Es war eine friedliche Art von Dunkelheit, freundlich und beschützend, nicht bedrohlich. »Gunther und die anderen werden noch schlafen«, meinte Dankwart. Hagen sagte nichts darauf. Er empfand plötzlich unsinnigen Zorn auf seinen Bruder, der zum zweitenmal so störend seine Gedanken durchdrang. Dann rief er sich zur Vernunft. Dankwart hatte auf seine nüchterne Art recht Gunther war nicht dafür bekannt, mit den Hühnern aufzustehen. »In der Küche ist Licht«, sagte Dankwart. Er deutete auf ein kleines gelbes Rechteck, das wie ein verschlafenes Auge in die Dunkelheit des Hofes blinzelte. »Laß uns hineingehen. Ein Becher heißer Glühwein wird uns beiden guttun.«
Einen Moment lang war Hagen versucht, auf den Vorschlag seines Bruders einzugehen. Aber dann schüttelte er den Kopf. »Geh nur«, sagte er. »Ich will hinaufgehen in meine Kammer.«
Dankwart zuckte nur mit den Schultern und ging. Hagen sah ihm nach. Er wußte, daß Dankwart ihm die Antwort übelnahm. Sein Bruder war in den letzten Tagen immer gereizter geworden, je mehr sie sich Worms näherten.
Die Wahrheit war, daß Hagen einfach noch einen Moment allein sein wollte.
Er wartete, bis sein Bruder verschwunden war, dann wandte er sich um und ging langsam die Treppe zum Haupthaus hinauf. Neben der Türstand keine Wache, und auch die große Halle dahinter war leer. Hagen blieb stehen und atmete tief ein, sog den vertrauten Geruch nach Stein und Kälte und Feuchtigkeit in die Lungen, der zu Worms gehörte wie seine Mauern und das blutige Rot seiner Wimpel. Und wieder hatte er das Gefühl, nach Hause zu kommen.
Langsam durchquerte er die Halle, öffnete die Tür zu Gunthers Thronsaal und blieb auf der Schwelle stehen, ohne einzutreten. Auf der Tafel standen die Reste einer Mahlzeit, von den Dienern noch nicht abgeräumt, weil das Fest wahrscheinlich bis in die frühen Morgenstunden gedauert hatte. Der Geruch nach Wein lag in der Luft, und für einen Moment meinte er, das Klingen der Becher und das Lachen der Zechenden zu hören.
Lautlos zog er die Tür zu, wandte sich um und stieg die ausgetretenen hölzernen Stufen der Treppe hinauf. Der Klang seiner Schritte und die Schatten, die in den Winkeln nisteten, begleiteten ihn und weckten sonderbare Gedanken und Gefühle in ihm. Es war nicht das erstemal, daß es ihm so erging, seit er in Island gewesen war. Irgend etwas von der Düsternis, ein winziger Keim vom grauen Schrecken des Isensteines war ihm gefolgt, und es würde ihn nie wieder verlassen. Er erreichte den Turm, aber er traf auch hier niemanden; obwohl Stadt und Burg vor Menschen aus den Nähten platzte, schien dieser Teil der Festung ausgestorben. Hagen war es nur recht. Sosehr er sich auf ein Wiedersehen mit Gunther und den anderen gefreut hatte, fürchtete er den Moment jetzt beinahe. Hagen erreichte den ersten Treppenabsatz und fand auch diesen Teil des Turmes leer. Nach kurzem Zögern ging er weiter und betrat schließlich seine alte Kammer.
Der Raum war kalt und dunkel. Der Staub eines Jahres lag auf dem Boden und den wenigen Möbelstücken, und die Kammer kam ihm schäbiger vor, als er sie in Erinnerung hatte. Er trat ans Fenster, nahm den Laden herunter und ließ das Sonnenlicht ein. Die goldfarbene Wärme machte den Raum ein wenig freundlicher, aber nicht viel. Noch einmal ließ er den Blick durchs Zimmer schweifen. Dann wandte er sich mit einem Ruck um und ging zur Tür.
Als er die Kammer verließ, stand er unvermittelt einer Gestalt gegenüber - klein und zierlich, in einen langen, in einer spitz nach vorne gezogenen Kapuze endenden Mantel gekleidet, die ihr Gesicht halb verdeckte.
Hagen erschrak im ersten Moment, aber das Erschrecken wurde sogleich von einer heißen Welle der Freude hinweggespült. »Kriemhild!« rief Hagen überrascht.
»Hagen?« Es klang zögernd wie eine Frage. Dabei zitterte ihre Stimme, als unterdrücke sie mit Mühe die Tränen. Sie hob die Hände unter dem Mantel hervor und schlug die Kapuze zurück. »Hagen!« sagte sie noch einmal. Und plötzlich stieß sie einen kleinen Schrei aus, flog auf ihn zu und warf Hagen die Arme um den Hals, so ungestüm, daß er um ein Haar das Gleichgewicht verloren hätte. »Hagen!« rief Kriemhild immer wieder. »Hagen, du bist zurück!« Sie preßte das Gesicht gegen seine stoppelbärtige Wange, ihr Atem strich heiß über sein Gesicht. Hagen spürte, daß ihr Körper unter dem dünnen Stoff ihres Mantels zitterte. Einen Moment lang versuchte er sich gegen ihr Ungestüm zu wehren, aber dann gab er der Freude über das Wiedersehen nach. Er schlang die Arme um ihre Mitte, drückte Kriemhild an sich und hob sie schließlich in die Höhe, lachend und sie ein paarmal im Kreis schwenkend, wie er es früher gemacht hatte, als sie ein Kind gewesen war. Sie lachte, ließ seinen Hals los und ließ sich zwei-, dreimal im Kreis herumwirbeln, ehe sie mit den Füßen zu strampeln begann, damit er sie absetzte, genau wie sie es früher getan hatte.
Und dann tat sie noch etwas, was sie früher oft getan hatte, als sie ein Kind und Hagen so etwas wie ein zweiter Vater für sie gewesen war. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, nahm sein Gesicht in beide Hände und küßte ihn.