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Aber es war nicht mehr wie früher. Kriemhild war kein Kind mehr, sondern eine Frau.

Und sie küßte ihn wie eine Frau.

Ihre Lippen waren weich und warm, und ihre Berührung berauschender als alles, was er jemals erlebt hatte. Er wollte sich wehren, sie wegstoßen und anschreien, daß sie etwas Verbotenes tat, daß sie ihn loslassen sollte. Aber er konnte es nicht.

Mit aller Kraft riß er Kriemhild an sich und erwiderte ihren Kuß, wild und stürmisch und heiß, mit der Kraft und Verzweiflung eines Ertrinkenden.

Es dauerte nur wenige Sekunden, einige wilde, rasende Herzschläge lang, aber die Zeit blieb stehen, und er fühlte, daß es Kriemhild erging wie ihm, denn sie wehrte sich nicht, sondern erwiderte seine Umarmung. Dann, so schnell, wie es sie überkommen hatte, war es vorbei. Sie begriffen beide im gleichen Moment, was sie taten, und er spürte Kriemhilds Schrecken wie seinen eigenen. Hastig ließ er sie los, wich einen Schritt zurück und sah sie betroffen an. Kriemhild senkte beschämt den Blick. »Ich ... es tut mir leid«, sagte er schließlich. »Verzeih, Kriemhild. Ich habe mich hinreißen lassen, aber das ... hätte nicht geschehen dürfen.« Kriemhild sah auf. In ihren Augen schimmerten Tränen. »Aber du brauchst dich doch nicht zu entschuldigen«, sagte sie leise. Hagen starrte sie an. Wie schön sie ist, dachte er. »Ich bin es, die sich entschuldigen muß«, fuhr Kriemhild fort, nun wieder gefaßt. Plötzlich lächelte sie, obwohl ihr die Tränen über die Wangen liefen. »Aber was reden wir überhaupt, Hagen? Kennen wir uns denn nicht lange genug? Und ist ein ganzes langes Jahr der Trennung nicht Grund genug für einen freundschaftlichen Kuß?« Aber es war kein freundschaftlicher Kuß gewesen, dachte Hagen. Begriff sie denn nicht, daß er sie liebte? Der Gedanke traf ihn mit der Wucht eines Fausthiebes. Und er tat ebenso weh. Er liebte Kriemhild.

Nicht das Kind in ihr, das sie gewesen war. Nicht Gunthers Schwester, die er auf den Knien geschaukelt hatte, sondern Kriemhild, die Frau. Er liebte sie nicht mehr wie ein Vater seine Tochter, nicht wie ein Bruder die Schwester, sondern wie ein Mann eine Frau. Und nicht erst seit heute. Er hatte sich all die Jahre hindurch selbst belogen, aber jetzt ging es nicht mehr. Es war wie das Ende einer langen, schmerzhaften Reise, einer Reise zur Wahrheit, für die er sein ganzes Leben gebraucht hatte. Jetzt hatte er das Ziel erreicht, und es gab kein Zurück mehr. Hagen rettete sich in ein Lächeln. »Es ist... nichts, Kriemhild«, brachte er mühsam hervor.

»Aber du...« Sie stockte. »Du weinst ja!« flüsterte sie. Sie streckte die Hand aus, um ihm eine Träne von der Wange zu wischen, aber Hagen hielt ihre Hand fest »Es ist wirklich nichts, Kriemhild«, sagte er. »Nur die Freude über das Wiedersehen. Und vielleicht auch ein wenig Müdigkeit. Dankwart und ich sind die letzten drei Tage und Nächte fast ohne Pause geritten. - Und ich bin kein junger Mann mehr«, fügte er lächelnd hinzu. Er schob Kriemhild auf Armeslänge von sich. »Aber nun erzähle«, sagte er. »Wie ist es dir ergangen während meiner Abwesenheit?« »Wie soll es mir ergangen sein?« gab Kriemhild achselzuckend zurück. »Ein Jahr ist lang, und noch viel länger ohne dich.« Sie hob in gespieltem Zorn den Finger, um ihm damit zu drohen. »Du hättest mich nicht so lange allein lassen dürfen, Hagen.«

Sie lachten beide, und dann ergriff Kriemhild seine Hand und zog ihn zur Treppe. »Laß uns hinuntergehen und Gunther wecken. Er wird außer sich vor Freude sein, dich zu sehen.« »Er schläft noch?«

»Er und alle anderen«, bestätigte Kriemhild. Sie runzelte die Stirn. »Sie haben bis spät in die Nacht gefeiert. Und mein königlicher Bruder war wieder einmal völlig betrunken.« Hagen blieb stehen und sah sie fragend an.

»Wirklich, Hagen«, sagte Kriemhild wie zur Erklärung. »Ich bin froh, daß zu zurück bist. Es war nicht das erste Mal, daß Gunther zuviel getrunken hat«

»Ich weiß«, sagte Hagen. »Es ist schlimmer geworden.« »Seit wann?« fragte Hagen, als sie nicht weitersprach. »Seit Siegfried und er zurückgekommen sind«, antwortete Kriemhild, ohne ihn dabei anzusehen. »Und seit diese schreckliche Frau in Worms ist«

»Brunhild?«

»Ja, Brunhild«, bestätigte Kriemhild. »Und du hast Gunther auch noch geholfen, sie zu holen.«

»Mein Anteil daran war nicht besonders groß. Aber wieso nennst du sie eine schreckliche Frau?«

»Weil sie es ist«, behauptete Kriemhild. »Sie führt sich auf, als wäre sie bereits die Königin von Worms, mehr noch, der ganzen Welt. Jedermann kommandiert sie herum, und wenn sich jemand weigert, ihren Befehlen zu gehorchen, läuft sie zu Gunther und beschwert sich oder schickt ihre beiden schrecklichen Dienerinnen, ihn grausam zu bestrafen. Einen der Reitknechte haben sie erschlagen.«

»Das ist nicht wahr«, entfuhr es Hagen.

Kriemhild schürzte die Lippen. »Dann geh hin und frage Gunther«, sagte sie. »Der arme Bursche hatte einen Sattelgurt nicht richtig festgezogen, so daß Brunhild um ein Haar vom Pferd gestürzt wäre. Gunther hat ihn dafür peitschen lassen, aber das war Brunhild wohl nicht genug. Am nächsten Morgen wurde er hinter dem Stall gefunden - mit eingeschlagenem Schädel.«

»Das ... das fällt mir schwer zu glauben«, sagte Hagen, »Brunhild ist...« »Sie ist böse und herrschsüchtig und gemein«, fiel ihm Kriemhild erregt ins Wort. »Jedermann in Worms hat Angst vor ihr, selbst Gunther. Und wenn sie erst Königin ist, wird alles noch viel schlimmer werden.« »Aber das ist nicht alles«, sagte Hagen leise.

Kriemhild starrte an ihm vorbei an die Wand. Dann schüttelte sie den Kopf, daß ihre blonden Locken flogen. »Nein«, sagte sie. »Ich ... ich hasse sie, Hagen, und nicht nur ich. Sie macht Siegfried schöne Augen.« »Weiter nichts?« fragte Hagen.

Kriemhild schnaubte. »Weiter nichts!« rief sie. »Als ob das nicht genug wäre. In drei Tagen ist meine Hochzeit mit Siegfried, und die meines Bruders mit ihr. Aber du müßtest sie sehen, wenn sie abends an der Tafel sitzt. Wie sie Siegfried anstarrt, unentwegt! Und Gunther hit, als merke er es nicht« Sie ballte zornig die Faust. »Ich bin froh, wenn die Hochzeit vorüber ist und wir Worms verlassen.«

»Ihr... wollt fort?« fragte Hagen erschrocken. Der Gedanke, daß Kriemhild nach ihrer Hochzeit die Stadt verlassen könnte, war ihm bisher überhaupt noch nicht gekommen.

Kriemhild nickte. »Wir reisen nach Xanten«, erklärte sie. »Siegfrieds Eltern haben uns eingeladen, den Sommer auf ihrer Burg zu verbringen. Und ehe der Winter kommt, werden wir zu Siegfrieds Burg im Reich der Nibelungen reiten.« Sie lächelte, als sie sah, wie sich Hagens Gesicht verdüsterte. »Oh - ich vergaß, du glaubst ja nicht, daß es sie gibt« »Das stimmt.«

»Aber Siegfried würde kaum mit mir zu einem Ort reiten wollen, der gar nicht existiert, oder?« Hagen antwortete nicht darauf. »Laß uns hinuntergehen und deinen Bruder wecken«, sagte er statt dessen.

12

Das Wiedersehen mit Gunther und den anderen hatte einen schalen Geschmack auf seiner Zunge hinterlassen. Vielleicht war es auch nur die Müdigkeit, die es ihm schwermachte, ihre übertriebene laute Heiterkeit zu teilen und alle die Fragen zu beantworten, mit denen sie ihn bestürmten. Er wurde das Gefühl nicht los, daß Gunther und seine beiden Brüder wie auch die meisten ihrer Getreuen sich mit Wein und fröhlichen Gelagen über ganz andere schwerwiegende Dinge hinwegzutäuschen suchten. Daran konnte auch ihre ehrliche Wiedersehensfreude nichts ändern. Er war froh, endlich allein zu sein. Er versuchte zu schlafen. Aber er fand keinen Schlaf. Bis weit in den Nachmittag hinein lag er wach auf seinem Lager. Es gelang ihm nicht, die Gedanken und Bilder zu verbannen, die hinter einem Schleier von Müdigkeit auf ihn eindrängten. Kriemhild.

Immer wieder dachte er ihren Namen, und er dachte ihn nicht nur; mehr als einmal ertappte er sich dabei, ihn leise vor sich hinzusprechen. Kriemhild. Kriemhild. Kriemhild. War das sein Schicksal, sein Geheimnis, von dem man sagte, daß jeder Mensch es am Grunde seiner Seele verborgen hielt? War sie der Grund für alles gewesen?