Der Gedanke brachte noch einen anderen, erschreckenderen Gedanken mit sich. Wenn es stimmte, dann war sein Haß auf Siegfried nichts anderes als Eifersucht. Im Innersten hatte er es die ganze Zeit gewußt. Er hatte gespürt, daß Siegfried von Xanten weit mehr als nur eine Gefahr für Gunther und Worms war. Er selbst, Hagen von Tronje, der Mann aus Eisen, der gefürchtetste Krieger in diesem Teil der Welt, fühlte sich durch Siegfried in der Tiefe seines Herzens bedroht; er, dem man nachsagte, das Wort Gefühl nicht einmal zu kennen. War es wirklich nur Eifersucht?
Er fand keine Antwort auf diese Fragen, und vermutlich wollte er es auch nicht, weil er wußte, daß er den Verstand verlieren würde, sollte er sie finden.
Irgendwann am späten Nachmittag stand er auf und verließ seine Kammer, um in die Stadt hinunterzugehen. Der Weg schien ihm weiter, als er ihn in Erinnerung hatte. Seine Beine und vor allem sein Rücken schmerzten und erinnerten ihn daran, daß er acht Tage ohne längere Pause geritten war. Und doch, in diesem Moment begrüßte er fast den Schmerz?, denn dieser war ein Feind, den er fassen und bekämpfen konnte. In den Straßen von Worms herrschte dichtes Gedränge. Die Stadt war gewachsen, seit er das letztemal hiergewesen war: Wo sich ein Jahr zuvor steinige Äcker an die letzte Häuserreihe angeschlossen hatten, erhob sich nun ein einstöckiges, aus Holz errichtetes Gebäude, das sich durch das bunte Schild über dem Eingang als Herberge zu erkennen gab; ohne Zweifel eigens für die Hochzeit am Pfingstsonntag errichtet und allein aus Gunthers Schatzkammer bezahlt. Vom Kirchplatz her drang das Hämmern der Zimmerleute, die die Tribünen für die Gäste errichteten. Das Bild eifriger Betriebsamkeit beruhigte Hagen. Er lächelte und ging weiter zum Kirchplatz.
Er blieb am Rande des Platzes stehen, denn die Stufen vor dem weit offenstehenden Tor des Gotteshauses waren schwarz von Priestern und Ordensleuten, und er wollte keinem von ihnen begegnen. Giselher hatte ihm erzählt, daß Gunther einen Bischof - seinen Namen hatte Hagen vergessen - eingeladen hatte, die Doppelhochzeit zu vollziehen. Das Blitzen eines Sonnenstrahles, der sich auf Gold brach, ließ ihn aufschauen. Zunächst sah er nichts als ein schier undurchdringliches Gewirr von Menschen und Farben, aber dann fiel sein Blick auf den goldenen Helm einer Walkürenkriegerin, daneben ein zweiter, und zwischen ihnen die etwas kleinere, in gleißendes Gold und Silber gekleidete Gestalt Brunhilds.
Etwas in ihm riet ihm, sich umzuwenden und zu gehen, denn er wollte Brunhild so wenig begegnen wie Siegfried. Aber dann siegte seine Neugier, und er blieb.
Die Walküre und ihre beiden Begleiterinnen standen auf der untersten Stufe der Kirchentreppe, und obwohl er viel zu weit entfernt war, um den Ausdruck auf Brunhilds Gesicht erkennen zu können, war klar, daß sie mit jemandem stritt.
Kriemhilds Worte fielen ihm ein. Einen Moment lang zögerte er noch, dann schlug er mit einer entschlossenen Bewegung seinen Mantel zurück und bahnte sich einen Weg über den Platz. Hagen beschleunigte seinen Schritt, als er erkannte, wer es war, mit dem die Walküre stritt - nämlich niemand anders als Kriemhild selbst, die in Begleitung ihrer Mutter und zweier angstvoll geduckter Zofen vor Brunhild stand und aufgeregt mit den Händen gestikulierte.
So rasch es ging, schob er sich durch die Menge und trat zwischen die beiden Streitenden.
In Brunhilds Augen blitzte es zornig auf, als sie ihn erkannte. Er deutete ein Nicken an, drehte sich auf der Stelle um und sah erst Kriemhild, dann ihrer Mutter Ute ernst in die Augen. Kriemhild hatte mitten im Wort gestockt, als er auftauchte, so daß er nicht einmal wußte, worum der Streit überhaupt ging. »Was ist geschehen?« fragte Hagen ruhig.
»Sie hat mich beleidigt«, sagte Kriemhild aufgebracht. »Sie hat...« »Beleidigt?« unterbrach sie Hagen. »Das kann ich nicht glauben!« »Aber sie hat es!« beharrte Kriemhild mit schriller, überschnappender Stimme, die sie plötzlich wieder zu einem trotzigen kleinen Mädchen werden ließ. »Sie besteht darauf, vor mir die Kirche zu betreten!« Hagen blickte fragend von Kriemhild zu Brunhild. »Und das ist ... alles?« fragte er ungläubig. Er spürte Zorn. »Ihr streitet Euch vor aller Augen um einer solchen Nichtigkeit willen?«
Aber im gleichen Moment erkannte er, daß es keine Nichtigkeit war. Er zweifelte nicht daran, daß Kriemhild selbst diesen Streit herausgefordert hatte, und mit voller Absicht gerade hier, wo jedermann es sehen mußte. Aber er begriff auch, warum.
»Es steht ihr nicht zu«, sagte Kriemhild wütend. »Wer bin ich denn, in zwei Schritten Abstand hinter ihr gehen zu müssen, als wäre ich ihre Zofe?«
Brunhild schwieg noch immer, aber das Funkeln in ihren Augen loderte zu einem hellen Feuer auf. Sie war so zornig wie Kriemhild und hatte sich nur ein wenig besser in der Gewalt. Aber anders als Gunthers Schwester fühlte sie sich durch Hagens Auftauchen verunsichert, denn für sie war er kein Verbündeter.
Hagen sah Ute an, aber das Gesicht der Königinmutter war wie aus Stein. Sie wich seinem Blick aus. Schließlich wandte er sich an Brunhild. Er deutete auf das offenstehende Domtor. »Ist das wahr?« fragte er.
»Und wenn?« fragte Brunhild ruhig. »Was mischt Ihr Euch ein, Hagen von Tronje? Was ich mit diesem Kind abzumachen habe, geht Euch nichts an.«
»Das stimmt«, sagte Hagen. »Aber nur, solange Ihr es unter Euch abmacht.« Seine Stimme wurde eine Spur schärfer. »Es geziemt sich nicht für Königinnen, sich wie die Marktweiber zu streiten, wo das gemeine Volk es sehen kann.«
Brunhild wurde blaß, während Kriemhild - der dieser Vorwurf ebenso galt, was sie aber nicht im geringsten zu stören schien - triumphierend lächelte. Hagen fühlte sich nicht sehr wohl in seiner Rolle. Obgleich jedermann in ihrer Umgebung so tat, als merkte er nichts, war er sich doch der Tatsache bewußt, daß Brunhild, Kriemhild und er plötzlich im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit standen. »Warum geht Ihr nicht Seite an Seite hinauf, wenn Ihr Euch schon nicht einigen könnt?« fragte er.
Brunhild lachte. »Es ist sonderbar, Hagen«, sagte sie. »Aber genau diesen närrischen Vorschlag habe ich von Euch erwartet.« Sie trat rückwärts eine Stufe hinauf, so daß sie mit einemmal größer war als er und auf ihn herabblicken konnte.
»Vielleicht ist es ganz gut, daß Ihr zurückgekommen seid, Hagen von Tronje«, sagte sie, plötzlich wieder sehr ruhig, aber in etwas lauterem Ton, als nötig gewesen war. Sie streifte Kriemhild mit einem verächtlichen Blick. »Dieses Kind hat vom ersten Tage an keinen Zweifel daran gelassen, daß es mich haßt«, fuhr sie fort »Ich weiß nicht, warum, aber es spielt auch keine Rolle. Es ist an der Zeit, daß sie begreift, wer die Königin von Worms sein wird. Wenn ihre eigene Mutter und ihr Verstand es ihr nicht sagen, dann müßt Ihr es tun, Hagen von Tronje.« »Die Königin von Worms!« fauchte Kriemhild. »Daß ich nicht lache. Ihr vergeßt, wer Ihr seid, Brunhild!« »Kriemhild!« sagte Hagen scharf. »Ich bitte Euch...« Aber Kriemhild hörte nicht auf ihn. Wütend raffte sie ihre Röcke, lief die drei Schritte an Hagen vorbei die Treppe hinauf und blieb hoch aufgerichtet vor Brunhild stehen. Ihre Augen sprühten vor Zorn. »Muß ich Euch daran erinnern, wie Ihr hierhergekommen seid, Brunhild?« fragte sie. »Ich bin zwar nicht von göttlicher Abstammung wie Ihr, aber ich bin nicht als Beute meines Bruders hierhergebracht worden. Ihr werdet vielleicht in zwei Tagen die Gemahlin meines Bruders, aber eine Königin werdet Ihr nie wieder sein. Ihr seid ein Nichts, Brunhild. Die Zeiten Eurer Macht sind vorbei.«
Brunhild erbleichte, aber Kriemhild fuhr, mit noch größerer Verachtung in der Stimme, fort: »Was seid Ihr denn noch, Brunhild? Seht Euch um! Glaubt Ihr denn, auch nur ein einziger Mann oder eine einzige Frau hier in Worms würde Euch lieben? Und Eure Schönheit, der Ihr Euch so gerne rühmen laßt, wird schon in wenigen Jahren dahin sein.« »Es ist genug, Kriemhild«, sagte Hagen scharf. Er war mit einem raschen Schritt bei ihr und packte sie beim Arm. »Hört auf!« sagte er wütend.