Sobald Pendergast die Untersuchung des unmittelbaren Tatumfelds beendet hatte, setzte er seine Arbeit schweigend fort. Er nahm eine langsame, penible Erkundung des Musikzimmers, des Tresors sowie der anderen beiden Zimmer in diesem Stockwerk des Stadthauses vor. Als Nächstes setzte er seine Erkundung in den oberen Etagen fort, dann stiegen er und D’Agosta zum Dachboden hinauf. Erneut hockte sich Pendergast im Staub, der vor dem Tresor lag, auf Hände und Knie und pflückte und verstaute Beweismittel in Teströhrchen.
Unter der niedrigen Decke erhob er sich halb und murmelte dabei: »Sonderbar, wirklich sehr sonderbar.«
D’Agosta hatte zwar keine Ahnung, was er sonderbar fand, ahnte aber, dass auf eine diesbezügliche Frage keine Antwort folgen würde. »Wie gesagt, es muss jemand gewesen sein, der für Sharps & Gund arbeitet. Der Täter hat genau gewusst, wie das System funktioniert. Ich meine, ganz genau.«
»Ein ausgezeichneter Hinweis, dem wir folgen können. Ach ja – was den anderen Mord betrifft, haben Sie irgendwelche neuen Erkenntnisse hinsichtlich der Tochter?«
»Ja. Wir konnten die Kopien einiger Akten der Polizei in Beverly Hills bekommen. Die Tochter hat vor rund anderthalb Jahren, als sie unter Alkoholeinfluss Auto fuhr, einen Jungen getötet – Fahrerflucht. Ozmian hat sie mithilfe verdammt guter Arbeit seiner Anwälte herausgepaukt. Die Familie des Jungen hat das ziemlich schwer genommen – es wurden Drohungen ausgestoßen.«
»Noch eine Spur, der man nachgehen sollte.«
»Selbstverständlich. Die Mutter des Jungen hat Selbstmord begangen, der Vater ist angeblich zurück an die Ostküste gezogen. Wir versuchen gerade zu ermitteln, wo er sich aufhält, damit wir ihn befragen können.«
»Halten Sie ihn für einen Tatverdächtigen?«
»Er hat ein starkes Motiv.«
»Wann ist er an die Ostküste gezogen?«
»Vor rund einem halben Jahr. Wir halten das alles unter der Decke, aus offensichtlichen Gründen, bis wir ihn ausfindig gemacht haben.«
Sie stiegen wieder hinunter ins Erdgeschoss, wo sich Pendergast an Curry und die kleine Gruppe von Polizeibeamten wandte, die bei ihm stand. »Ich möchte einmal einen Blick in diese Akte werfen.«
Curry zog aus seiner Aktentasche eine Fächermappe und reichte sie Pendergast. Dieser nahm unverzüglich in einem Sessel Platz, öffnete die Mappe und begann, darin zu blättern. Er zog einzelne Schriftstücke hervor, musterte sie genau und legte sie in rascher Folge wieder zurück.
D’Agosta blickte verstohlen auf die Uhr. Zehn Minuten nach zwölf. »Hm, das ist eine ziemlich dicke Akte. Vielleicht sollten Sie die mit nach Hause nehmen … Sie können das alles haben.«
Als Pendergast den Kopf hob, funkelten seine silbrigen Augen vor Verärgerung. »Bevor ich das Haus hier verlasse, möchte ich mich vergewissern, dass ich nichts übersehen habe.«
»Gut, gut.«
D’Agosta verfiel in Schweigen, während Pendergast weiter die Unterlagen durchsah. Alle warteten mit zunehmender Ungeduld. Minuten verstrichen.
Plötzlich blickte Pendergast auf. »Wo ist eigentlich Mr. Cantuccis Mobiltelefon?«
»In dem Bericht heißt es, dass man es nicht gefunden hat. Anrufe werden an die Mobilbox weitergeleitet. Es ist ausgeschaltet. Wir haben keine Ahnung, wo zum Teufel es sich befindet.«
»Es hätte auf dem Nachttisch liegen müssen, wo auch das Ladegerät lag.«
»Er hat es wahrscheinlich irgendwo anders hingelegt.«
»Haben Sie sein Büro durchsucht?«
»Ja.«
»Unser Mr. Cantucci hat zwei Anhörungen vor großen Geschworenengerichten überstanden. Außerdem sind mehr als ein Dutzend Durchsuchungsbeschlüsse gegen ihn erwirkt worden – von den zahllosen Morddrohungen ganz zu schweigen. Er würde sein Mobiltelefon nicht aus dem Blick lassen. Niemals.«
»Okay. Worauf wollen Sie hinaus?«
»Der Mörder hat Cantuccis Mobiltelefon an sich genommen. Bevor er Cantucci umgebracht hat.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Der Mörder ist erst nach oben gegangen, hat Cantuccis Handy von dessen Nachttisch genommen, während Cantucci schlief, und ist anschließend zurück nach unten ins Erdgeschoss gestiegen.«
»Das ist doch verrückt. Wenn er das getan hat, warum hat er dann Cantucci nicht einfach vor Ort im Bett ermordet?«
»Eine ganz hervorragende Frage.«
»Vielleicht hat der Mörder Cantucci ja das Handy abgenommen, nachdem er ihn ermordet hat.«
»Unmöglich. Mr. Cantucci hätte per Handy 911 angerufen, als ihm klar wurde, dass es einen Eindringling im Haus gibt. Die Schlussfolgerung ist unausweichlich, dass Cantucci, als er aufwachte und den Eindringling verfolgte, sein Mobiltelefon nicht mehr hatte.«
D’Agosta schüttelte den Kopf.
»Außerdem stehen wir hier vor einem weiteren ungelösten Rätsel, Vincent.«
»Und das wäre?«
»Wieso hat der Mörder sich so große Mühe gegeben, die Alarmanlage lahmzulegen, es jedoch versäumt, die Videoüberwachungsanlage herunterzufahren?«
»Das lässt sich leicht beantworten«, sagte D’Agosta. »Er hat das System dazu genutzt, sein Opfer ausfindig zu machen – damit er sieht, wo sich Cantucci im Haus aufhält.«
»Aber weil er das Handy an sich gebracht hatte, hat er bereits gewusst, wo sein Opfer sich befindet: im Bett, schlafend.«
Das setzte voraus, dass Pendergast mit seiner irrwitzigen Annahme recht hatte, dass der Mörder das Mobiltelefon an sich genommen hatte und dann wieder zurück nach unten gegangen war, ohne Cantucci auf der Stelle zu ermorden. »Tut mir leid, das glaube ich nicht.«
»Überlegen Sie doch mal. Was hat unser Mr. Cantucci getan, als er aufwachte? Er hat nicht 911 angerufen, denn er konnte ja sein Handy nicht finden. Gleichzeitig wurde ihm klar, dass die Alarmanlage zwar deaktiviert worden, die Überwachungsanlage aber immer noch in Betrieb war. Er hat auf der Stelle seine Waffe geholt und mithilfe der Videoüberwachung den Eindringling ausfindig gemacht. Er hat den Eindringling gefunden und gesehen, dass dieser mit einem Jagdbogen bewaffnet ist. Unser Mr. Cantucci wiederum besaß eine Handfeuerwaffe mit einem Fünfzehn-Schuss-Magazin – und er konnte gut damit umgehen. Ihre eigenen Akten deuten darauf hin, dass er Sportschütze war, der viele Preise gewonnen hat. Er hat angenommen, dass er mit seiner Waffe und seinen Fähigkeiten dem Jagdbogen des Eindringlings weit überlegen ist. Das hat ihn ermutigt, den Eindringling zu verfolgen, wobei ich zu bedenken geben möchte, dass der Eindringling genau das wollte. Es handelte sich mithin um eine Falle. Am Ende wurde das Opfer überrumpelt und ermordet.«
»Woher wollen Sie das alles wissen?«
»Mein lieber Vincent, es gibt keine andere Möglichkeit, wie sich der Mord abgespielt haben kann! Das gesamte Szenario wurde professionell von einer Person orchestriert, die während der ganzen Zeit ruhig, methodisch und ohne Eile gehandelt hat. Das war kein Profikiller, sondern jemand, der weitaus intelligenter ist.«
D’Agosta zuckte mit den Schultern. Wenn Pendergast abschweifen wollte, dann war das sein gutes Recht – es wäre ja auch nicht das erste Mal. »Lassen Sie mich die Frage noch einmal stellen: Wenn Sie recht haben, was das Handy betrifft, warum hat der Täter Cantucci dann nicht einfach im Bett getötet?«
»Weil sein Ziel nicht einfach nur darin bestand, zu töten.«
»Und was war sein Ziel Ihrer Meinung nach?«
»Das, mein lieber Vincent, ist genau die Frage, die wir zu beantworten haben.«
12
Anton Ozmian nahm sein Frühstück um sechs Uhr morgens in seinem Büro ein – ein Becher Pu-Erh-Biotee, die gerührten Eiweiße zweier frei laufender Indian-Runner-Enten sowie ein 1-Unze-Stück 100-Prozent-Zartbitterschokolade. Die Zutaten dieses Frühstücks hatten sich in zehn Jahren nicht geändert. Ozmian musste im Lauf des Tages schwierige geschäftliche Entscheidungen treffen, zum Ausgleich organisierte er sein übriges Leben so, dass es möglichst frei von Entscheidungen war – beginnend mit dem Frühstück. Er aß allein in seinem großen Büro mit Blick auf den Hudson, der sich im rötlichen Licht der Morgendämmerung dahinwälzte wie eine Straße flüssigen Stahls. Es klopfte leise an der Tür; ein Assistent trug einen Stapel Morgenzeitungen herein, die er auf den Schreibtisch aus Granit legte, ehe er geräuschlos wieder verschwand. Ozmian blätterte in den Zeitungen – das Wall Street Journal, die Financial Times, die New York Times und die New York Post – und warf in der üblichen Reihenfolge einen Blick auf die Schlagzeilen.