Die Post war die letzte Zeitung auf der Liste, wobei er sie nicht wegen ihres Nachrichtenwerts, sondern aus anthropologischem Interesse las. Als sein Blick auf die Titelseite mit der üblichen 72-Punkt-Schlagzeile fiel, erschrak er.
TOD AUF DER STRASSE
Betrunkene Ozmian-Tochter begeht Fahrerflucht
Von Bryce Harriman
Im Juni vergangenen Jahres überfuhr Grace Ozmian, die kürzlich ermordete und enthauptete Tochter des Dot-com-Moguls Anton Ozmian, einen achtjährigen Jungen mit ihrem BMW X6 Typhoon in Beverly Hills. Sie beging Fahrerflucht und ließ den Jungen sterbend auf der Straße liegen. Ein Augenzeuge merkte sich das Kfz-Kennzeichen, zwei Meilen vom Tatort entfernt wurde sie von der Polizei gestoppt. Ein Bluttest ergab eine Blutalkoholkonzentration von 0,6, das Doppelte des gesetzlichen Höchstwerts.
Ihr Vater, der milliardenschwere CEO von DigiFlood, beauftragte in der Folge ein Team von Anwälten einer der teuersten Kanzleien in LA, Crosbie, Whelan & Poole, mit der Verteidigung der Tochter. Sie wurde lediglich zu 100 Stunden Gemeindearbeit verurteilt, die Prozessunterlagen wurden versiegelt. Die Gemeindearbeit der Tochter bestand darin, in einem Obdachlosenheim in der Innenstadt von Los Angeles zwei Vormittage in der Woche Toasts mit Butter zu bestreichen und Pfannkuchen zu servieren …
Während Ozmian den Artikel las, von der ersten bis zur letzten Zeile, wurden seine Hände zittrig. Bald zitterten sie so heftig, dass er die Zeitung auf den Schreibtisch zurücklegen musste, um den Artikel zu Ende lesen zu können. Als er ihn durchhatte, erhob er sich, griff nach dem Glasbecher mit Tee und warf ihn, einen Schrei sprachloser Wut ausstoßend, durch das Zimmer, mitten auf ein Jasper-Johns-Gemälde, das die US-amerikanische Flagge darstellte. Der Glasbecher zersprang, schnitt durch die Leinwand und hinterließ einen braunen Fleck darauf.
Es klopfte an der Tür, dringlich. »Draußen bleiben!«, schrie Ozmian. Dabei ließ er seinen Blick durch das Zimmer schweifen, griff nach einem ein Kilo schweren Nickel-Eisen-Meteoriten und warf diesen auf das Bild von Johns. Die Leinwand riss, der Rahmen brach, das Bild fiel von der Wand. Schließlich packte Ozmian eine kleine bronzene Skulptur von Brancusi und versetzte dem zerbrochenen Gemälde, das jetzt auf dem Boden lag, mehrere wüste Hiebe, womit er die Zerstörung vollendete.
Schwer atmend hielt er inne und ließ die Brancusi-Skulptur auf den Teppich fallen. Die Vernichtung des Bildes, das Ozmian bei Christie’s für 21 Millionen Dollar ersteigert hatte, führte dazu, dass er seiner Wut leichter Herr wurde. Er stand reglos da, regulierte seine Atmung, wartete darauf, dass die Wirkung der Kampf-oder-Flucht-Hormone nachließ und sein Herzschlag sich wieder beruhigte. Als er den Eindruck hatte, dass er wieder in einem körperlich stabilen Zustand war, ging er zurück zum Granitschreibtisch und las den Artikel aus der Post noch einmal. Diesmal stieß er auf ein wesentliches Detail, das er beim ersten Lesen übersehen hatte: die Zeile mit dem Namen des Verfassers.
Und da war der Name: Bryce Harriman. Bryce Harriman.
Er drückte die Taste auf der Gegensprechanlage. »Joyce, Isabel soll auf der Stelle zu mir ins Büro kommen.«
Er ging hinüber zum Johns und blickte auf das Gemälde hinunter. Ein Totalschaden. 21 Millionen Dollar, und natürlich gab es keine Möglichkeit, die Versicherungsprämie zu kassieren, denn er hatte es ja selbst zerstört. Trotzdem bereitete es ihm eine seltsame Genugtuung, dass er es getan hatte. 21 Millionen Dollar – die versenkte er doch gern in der unendlichen See seines Zorns. Und dieser Bryce Harriman würde, und zwar schon sehr bald, erleben, wie tief dieses Meer war – denn nötigenfalls würde er dieses Schwein darin ertränken.
13
D’Agosta hatte sich kategorisch geweigert, im Dienst in Pendergasts Rolls-Royce mitzufahren – wie würde das denn aussehen? Infolgedessen saß Pendergast, stumm und missmutig, mit ihm im Funkstreifenwagen. D’Agosta hatte schon eine Weile nicht mehr so eng mit ihm zusammengearbeitet und hatte vergessen, was für eine Nervensäge der FBI-Agent sein konnte.
Während Sergeant Curry sie auf dem Long Island Expressway durch den Stop-and-go-Verkehr chauffierte, entrollte D’Agosta die Ausgabe der Post, die er am Morgen gekauft hatte, und betrachtete erneut die reißerische Schlagzeile. Singleton hatte ihn am Vormittag heruntergeputzt, weil er nicht vor Harriman mit Izolda Ozmian gesprochen und ihr keinen Mordsschrecken eingejagt hatte, weil sie mit dem Journalisten gesprochen hatte. Der Artikel war clever geschrieben. Er erregte öffentliche Aufmerksamkeit, steigerte die Hysterie und sicherte Harriman einen steten Strom von »Exklusiv«-Storys. Das hatte D’Agosta am Morgen in eine ganz üble Laune versetzt, die sich im Lauf des Tages noch verstärkt hatte. Er sagte sich, dass er nichts gegen den Artikel unternehmen könne und stattdessen einfach vorangehen und den Fall so schnell wie möglich lösen sollte. Sie hatten bereits den Ort aufgespürt, an dem sich der Vater des toten Jungen niedergelassen hatte – in Piermont im Bundesstaat New York, wo er als Barkeeper arbeitete. Nachdem sie mit dieser Befragung auf Long Island fertig wären, sollte Piermont D’Agostas nächster Stopp sein.
Als ihr Wagen in Jericho auf das Gelände des zur Hälfte leer stehenden Einkaufszentrums einbog, in dem die Büroräume von Sharps & Gund untergebracht waren, wunderte sich D’Agosta darüber, dass die Zentrale einer renommierten Sicherheitsfirma an solch einem Ort untergebracht war. Wie es aussah, hatten sie das hintere Ende der Mall übernommen, er konnte auf der jetzt leeren Außenwand sogar den schwachen Umriss SEARS erkennen. Bis auf einer Reihe reservierter Parkplätze voller Autos – schöner Autos, sehr schöner Autos – gab es nichts, was darauf hindeutete, dass dieser Bereich der Mall überhaupt vermietet war. Offenbar war Sharps & Gund nicht nur diskret – der Laden war praktisch unsichtbar.
Sergeant Curry stellte den Streifenwagen auf einem der Besucherparkplätze ab, und sie stiegen aus. Es war ein kalter, grauer Tag, und als sie sich der Doppelglastür näherten, wehte ein scharfer Windstoß vor ihnen eine alte Plastiktüte über den Gehsteig. Hier sahen sie schließlich ein kleines Schild mit dem Firmenlogo von Sharps & Gund. Diskret, geschmackvoll.
Die Tür war nicht verschlossen. D’Agosta trat ein, Pendergast und Curry folgten dichtauf. Er betrat einen eleganten, dezenten Empfangsraum, der mit Möbelstücken aus polierten Harthölzern eingerichtet war, mit einem wohl sieben Meter langen Empfangstresen, hinter dem drei Frauen saßen, die offenbar nichts anderes zu tun hatten, als mit gefalteten Händen dazusitzen und zu warten.
»NYPD und FBI, wir möchten zu Jonathan Ingmar«, sagte D’Agosta, beugte sich über den Tresen und zückte seinen Dienstausweis. »Wir haben einen Termin.«
»Selbstverständlich, meine Herren«, sagte eine der Empfangsdamen. »Bitte nehmen Sie Platz.«