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Curry setzte Pendergast vor dem Dakota ab – der FBI-Agent hatte dubiose Ausflüchte vorgebracht, warum er sie nicht zum Vater des toten Jungen in Piermont begleiten könne. D’Agosta und Curry fuhren weiter zum West Side Highway, über die George Washington Bridge und den Palisades Parkway hinauf. Die kleine Ortschaft Piermont im Bundesstaat New York lag an der Route 9W auf der Westseite des Hudson, nicht weit entfernt von der New-Jersey-Bahnlinie. Curry war der verschwiegenste von allen Sergeants, wofür D’Agosta dankbar war. Auf der Fahrt las D’Agosta in den Personalakten, die sie bei Sharps & Gund kopiert hatten.
Zwei Techniker hatten die Alarmanlage bei Cantucci installiert. Der eine war immer noch bei dem Unternehmen angestellt und dürfte wohl keine Probleme bereiten, der andere hatte vor vier Monaten die Firma verlassen. Richtiger: Er war entlassen worden. Der Mann hieß Lasher, seine Personalakte war sauber gewesen, als er vor fünf Jahren bei der Firma anfing, aber im vergangenen Jahr hatten sich die Dinge offenbar rapide verschlechtert. Die Akte war voll von Abmahnungen wegen verspäteten Erscheinens am Arbeitsplatz, hin und wieder eines politisch unkorrekten Kommentars sowie zweier anzüglicher Bemerkungen gegenüber zwei Arbeitskolleginnen, wobei beide diese dem Arbeitgeber gemeldet hatten. Die Akte endete mit einem Bericht, der einen Wutausbruch von Lasher dokumentierte, wobei die Einzelheiten unklar blieben, abgesehen davon, dass es eine »Wutrede« gewesen war, die Lashers fristlose Kündigung zur Folge hatte.
D’Agosta lehnte sich im Sitz zurück, während Curry durch den langsamen Verkehr steuerte. Langsam hellte sich seine Stimmung weiter auf. Dieser Lasher kam für den Mord an Cantucci durchaus als Hauptverdächtiger infrage. Er schien genau die Art schlechtgelaunter Arsch zu sein, der sich an der Firma, die ihn rausgeschmissen hatte, rächt. Vielleicht hatte ja Lasher selbst Cantucci umgebracht; möglicherweise hatte er sich auch mit dem Killer zusammengetan und dem die notwendige Expertise als Insider zur Verfügung gestellt. So oder so, es handelte sich hier um eine verdammt gute Spur, und er würde dafür sorgen, dass der Kerl so bald wie möglich vernommen wurde.
D’Agosta war mehr denn je davon überzeugt, dass die beiden Morde keinesfalls miteinander zusammenhingen, sondern als gesonderte Fälle behandelt werden mussten. Beweis dafür war, dass sich an beiden Fronten völlig getrennte Spuren entwickelten. Der Vater des toten Jungen, Jory Baugh – zu dem sie jetzt unterwegs waren –, war eindeutig eine Person von Interesse im Mordfall Ozmian. Das könnte ein doppelter Sieg werden: zwei große Fälle auf einen Schlag lösen. Wenn ihm das keine Beförderung einbrachte, was dann.
Er drehte sich zu Curry um. »Ich erzähle Ihnen mal was über diesen Typen in Piermont, Baugh. Der tote Junge war sein einziges Kind. Grace Ozmian, die Fahrerflucht begangen hat und in deren Mordfall wir ermitteln, ist praktisch ungeschoren davongekommen. Nach dem Tod des Jungen ist die Familie zerbrochen. Die Mutter wurde alkoholkrank und hat am Ende Selbstmord begangen. Der Vater hat eine Zeit lang in einer psychiatrischen Klinik gelegen, und seine Landschaftsbaufirma in Beverly Hill ist bankrott gegangen. Vor einem halben Jahr ist er an die Ostküste gezogen. Arbeitet jetzt in einer Bar.«
»Warum ist er denn an die Ostküste gezogen?«, fragte Curry. »Hat er Familie da?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
Curry nickte erneut. Er war ein großer, kräftiger Kerl mit rundem Kopf, rötlichem Haar und einem Crew Cut. Er wirkte nicht schlau und redete auch nicht schlau, aber nach einiger Zeit war D’Agosta dahintergekommen, dass er intelligent war, und zwar verdammt intelligent. Er machte nur eben erst dann den Mund auf, wenn er etwas zu sagen hatte.
Sie verließen den Palisades Parkway und bogen auf die 9W Richtung Norden. Es war vier Uhr nachmittags, und die Rushhour war noch nicht voll im Gange. Nach einigen Minuten kamen sie im Städtchen Piermont an. Ein reizendes kleines Nest, am Hudson gelegen, mit einer Marina neben einem gigantischen Pier, der dem Städtchen den Namen gegeben hatte, hübschen Holzhäusern in den Hügeln oberhalb des Hudson und einem spektakulären Blick auf die Tappan Zee Bridge. D’Agosta holte sein Handy hervor und rief Google Maps auf.
»Die Bar heißt The Fountainhead. Liegt direkt an der Piermont Avenue.« Er sagte Curry, wie er fahren solle, und kurz darauf hielten sie vor einer einladenden Bar. Ein böiger Wind vom Hudson her beutelte sie, als sie ausstiegen und die Bar betraten. Jetzt, um halb fünf, war sie noch fast leer, nur ein Barkeeper stand hinter dem Tresen. Ein großer, schwerer Typ, gebaut wie ein Schauermann, im ärmellosen Hemd, die muskulösen Arme tätowiert.
D’Agosta ging zum Bartresen, holte seinen Dienstausweis hervor und legte ihn auf den Tresen. »Lieutenant D’Agosta, Mordkommission New York Police Department. Das hier ist Sergeant Curry. Wir suchen nach Jory Baugh.«
Der große, schwere Kerl musterte sie abschätzig aus kalten blauen Augen. »Sie haben ihn gefunden.«
D’Agosta wunderte sich, ließ sich jedoch nichts anmerken. Im Internet hatte er ein paar verwaschene Fotos von Baugh gefunden, aber auf denen sah er ganz anders aus als dieser Muskelprotz. Der Mann hier war nicht leicht zu lesen. Das Gesicht war völlig ausdruckslos.
»Darf ich Ihnen einige Fragen stellen, Mr. Baugh?«
»Worüber?«
»Wir ermitteln im Mordfall Grace Ozmian.«
Baugh legte das Tresenhandtuch beiseite, verschränkte die muskelbepackten Arme vor der Brust und stützte sich mit den Ellbogen auf den Tresen.
»Schießen Sie los.«
»Ich versichere Ihnen, dass Sie im Augenblick nicht tatverdächtig sind und dieses Gespräch freiwillig ist. Falls Sie sich dennoch als tatverdächtig erweisen, brechen wir das Gespräch ab, erklären Ihnen Ihre Rechte und geben Ihnen Gelegenheit, einen Anwalt hinzuziehen. Haben Sie das verstanden?«
Baugh nickte.
»Können Sie sich daran erinnern, was Sie am Mittwoch, dem vierzehnten Dezember, getan haben?«
Der Mann griff unter den Tresen, zog einen Kalender hervor, warf einen kurzen Blick darauf. »Ich habe hier am Tresen gearbeitet, von drei bis Mitternacht. Ich gehe jeden Morgen ins Fitnesscenter, von acht bis zehn. Dazwischen war ich zu Hause.« Er legte den Kalender wieder zurück. »Okay?«
»Gib es jemanden, der das bestätigen kann?«
»Im Fitnesscenter. Und hier in der Bar. Dazwischen, nein.«
Der Rechtsmediziner hatte den Todeszeitpunkt auf circa 22 Uhr, 14. Dezember, eingegrenzt, plus/minus vier Stunden. Um von hier in die Innenstadt zu gelangen, einen Menschen zu töten, sich Zeit zu lassen, bis das Opfer verblutet war, die Leiche in die Werkstatt in Queens zu verfrachten, vielleicht einen Tag später zurückzukommen, um den Kopf abzuschneiden … Diese Fragen musste D’Agosta auf Papier ausarbeiten.
»Na, zufrieden?«, fragte Baugh mit streitlustigem Unterton. D’Agosta sah ihn an. Baugh kochte förmlich vor unterdrückter Wut. In einem der verschränkten Arme zuckte ein Muskel.
»Mr. Baugh, warum sind Sie an die Ostküste gezogen? Haben Sie Freunde oder Angehörige in Piermont?«
Baugh beugte sich über den Tresen und schob sein Gesicht in Richtung D’Agosta. »Ich habe einen Scheißdartpfeil auf die Karten der Vereinigten Staaten geworfen.«
»Und der hat Piermont getroffen?«
»Genau.«
»Komisch, wie nahe der Dartpfeil dort gelandet ist, wo die Mörderin Ihres Sohnes wohnt.«
»Ey, nun hören Sie mir mal gut zu, Freundchen – wie war noch gleich Ihr Name, D’Agosta?«
»Richtig.«
»Nun hören Sie mal gut zu, Officer D’Agosta. Seit über einem Jahr male ich mir nun schon aus, dieses reiche Miststück, das meinen Sohn überfahren hat und ihn mitten auf der Straße verbluten ließ, kaltzumachen. O jaa. Ich habe mir so viele Arten vorgestellt, sie umzubringen, dass man die gar nicht zählen kann – sie anzünden, ihr jeden Knochen im Leib mit dem Baseballschläger brechen, sie mit einem Messer in kleine Stücke zerschneiden. Also, ja, es ist komisch, wie nahe der Dartpfeil gelandet ist. Nicht wahr? Wenn Sie glauben, dass ich sie umgebracht habe – nur zu. Nehmen Sie mich fest. Seit dem Tod meines Jungen hat mein Leben sowieso keinen Sinn mehr. Verhaften Sie mich und bringen Sie zu Ende, was ihr Bullen, Anwälte und Richter im vergangenen Jahr begonnen habt – die Zerstörung meiner Familie.«