Diese kleine Rede war in leisem, drohendem Tonfall vorgetragen worden, ohne die geringste Spur von Sarkasmus. D’Agosta überlegte, ob Baugh wohl die Linie überschritten hatte und tatverdächtig war, und kam zu dem Schluss, dass dies der Fall war.
»Mr. Baugh, ich möchte Sie über Ihre derzeitigen Rechte informieren. Sie haben das Recht, zu schweigen und sich zu weigern, Fragen zu beantworten. Außerdem kann alles, was Sie sagen, vor Gericht gegen Sie verwendet werden. Sie haben das Recht, einen Anwalt hinzuziehen, und dürfen jetzt einen anrufen, bevor wir irgendwelche weiteren Fragen stellen. Wenn Sie sich entschließen, auch weiterhin unsere Fragen zu beantworten, können Sie jederzeit damit aufhören und einen Anwalt anrufen. Wenn Sie sich keinen Anwalt leisten können, wird Ihnen ein Anwalt gestellt. Also, Mr. Baugh, verstehen Sie Ihre Rechte, so wie ich Sie Ihnen erklärt habe?«
Woraufhin Baugh in Gelächter ausbrach, ein Kollern, das schließlich in eine Art tiefes Belfern überging. »Genau wie im Fernsehen.«
D’Agosta wartete.
»Wollen Sie hören, was ich alles verstanden habe?«
»Ja.«
»Na gut, dann sage ich Ihnen mal, was ich verstanden habe: Als man meinen Jungen angefahren hat und ihn sterben ließ und man feststellte, dass es sich bei der Fahrerin um Grace Ozmian handelt, hat sich das Interesse aller Beteiligten verschoben. Einfach so.« Baugh schnippte so laut mit den Fingern, dass D’Agosta fast zusammengezuckt wäre. »Die Bullen, die Anwälte, die Versicherungsleute – plötzlich interessierten die sich nur noch für Grace Ozmian und das viele Geld, die Macht und die Beziehungen, die ihr Daddy spielen ließ. Nicht mehr für mich und meine Familie – oh, das ist ja nur ein unbedeutender Gärtner. Ozmian wird zu zwei Monaten verurteilt – Pfannkuchen wenden –, und die Akten verschwinden in der Versenkung, während ich dazu verurteilt bin, nie mehr eine Familie zu haben. Also, wollen Sie wissen, was ich verstehe? Was ich verstehe, ist, dass das Strafrecht in diesem Land am Arsch ist. Es dient den Reichen. Wir übrigen armen Schweine gehen leer aus. Und wenn Sie hergekommen sind, um mich zu verhaften, dann verhaften Sie mich doch. Ich kann ja doch nichts dagegen machen.«
Ruhig fragte D’Agosta: »Haben Sie Grace Ozmian getötet?«
»Ich glaube, ich brauche jetzt den Gratis-Anwalt, den Sie mir versprochen haben.«
D’Agosta musterte den Mann. An diesem Punkt der Befragung besaß er nicht genügend Beweise, um ihn in Gewahrsam zu nehmen. »Mr. Baugh, Sie können jederzeit die Rechtsberatung«, er schrieb die Telefonnummer auf, »anrufen. Ich werde Ihr Alibi für den Abend des vierzehnten Dezember überprüfen – was bedeutet, wir werden mit Ihrem Arbeitgeber sprechen, Gäste der Bar befragen und uns die Aufnahmen der Überwachungskamera da oben in der Ecke ansehen.« Er zeigte dorthin. Sie hatten beim Besitzer der Bar bereits eine Herausgabe der Aufzeichnungen der Überwachungskameras erwirkt, und er wusste, dass das Material sicher untergebracht war. Er hoffte allerdings, dass Baugh eine Dummheit begehen und versuchen würde, es zu vernichten.
Baugh lachte harsch. »Kein Problem, machen Sie doch, was Sie wollen.«
15
Um zwei Uhr morgens herrschte in der Villa in East Hampton im Bundesstaat New York Stille. Das 1700 Quadratmeter große Haus stand auf einem fünf Hektar großen Grundstück zwischen Further Lane und dem Atlantischen Ozean, umgeben von parkähnlichen Rasenflächen, einem Putting-Grün, einem künstlich angelegten Teich sowie einem »Zierbau«, der einem ägyptischen Miniaturtempel ähneln sollte. Das Haus selbst war ein zweistöckiger modernistischer Bau aus Beton, Glas, Stahl und Chrom, der aussah wie die Praxis eines Edelzahnarztes. Aus den großen Panzerglasfenstern fiel warmes Licht auf die riesigen umgebenden Rasenflächen.
Der Mann stand auf dem leeren Dezemberstrand, im Schatten einer steinernen Mole, und inspizierte das Haus mittels eines Nachtsichtfernglases. Hinter seinem Rücken donnerten und rollten die Wellen des winterlichen Atlantiks. Über dem Mann erhob sich am Meereshorizont das lichte Band der Milchstraße und wölbte sich über seinem Kopf. Das Anwesen machte einen ruhigen Eindruck.
Der Mann mit dem Fernglas war sich deutlich bewusst, dass es sich dabei um ein Trugbild handelte.
Er betrachtete durchs Fernglas das Grundstück, die Stockwerke des Hauses und die Fenster und prägte sich jedes Detail ein. Von seiner Position aus war zwar nur das Erdgeschoss zu erkennen, doch der Grundriss des Hauses war ihm bis in alle Einzelheiten vertraut; er hatte ihn sich aus der absurd offenen und ungeschützten zentralen Computeranlage von Cutter Byquist, dem Promi-Architekten, der das Haus entworfen hatte, besorgt. Dazu CAD-CAM-Diagramme der Bauzeichnungen, Pläne der mechanischen und elektrischen Anlagen, Pläne zum Sicherheitssystem, den Rohrleitungen, ja sogar der Musikanlage. Der Besitzer war ein altmodischer Mensch, der nicht auf Elektronik setzte, sondern auf ausgebildete, gut bezahlte Personen, von denen viele als südafrikanische Soldaten in Sondereinheiten des berüchtigten und inzwischen aufgelösten 8. Aufklärungskommando-Regiments gedient hatten.
In ihrem fünfundfünfzigjährigen Leben hatte sich die Zielperson, der dieses festungsähnliche Anwesen gehörte, viele, viele bedeutende Feinde gemacht. Es gab mehrere Personen und Organisationen, die ihn sehr gern töten würden, entweder aus Rache, um ihn zum Schweigen zu bringen, oder einfach nur, um eine Botschaft zu senden. Daher war sein Anwesen gegen jede Form des Eindringens gut geschützt.
Nach einigen Minuten, in denen er das Anwesen ausgekundschaftet hatte, spürte der Mann in der Hosentasche das leise, schnelle Vibrieren seines Mobiltelefons. Die erste Erinnerung von vielen derartigen Erinnerungen in festgelegten Abständen.
Jetzt begann die Operation.
Er hatte die Details mit militärischer Präzision ausgearbeitet, bis auf die Sekunde. Natürlich rechnete er mit dem Unerwarteten – und war deshalb darauf vorbereitet. Doch es gefiel ihm jedes Mal aufs Neue, zu Beginn einem Zeitplan zu folgen, bei dem alle Schritte, die er machte, alle Aktionen sorgfältig aufeinander abgestimmt waren.
Er nahm das Fernglas von den Augen, steckte es in seinen Rucksack und überprüfte die Glock, das SOG-Messer, das GPS-Gerät. Noch hatte er es nicht eilig. Für diese Einleitungsphase sah der Plan eine langsame, methodische Herangehensweise vor. Später, zum Schluss hin, musste alles sehr schnell gehen. Das lag an der einzigen Schwachstelle in seinem Plan: Die Zielperson verfügte über einen Panikraum zwischen seinem Schlafzimmer und dem seiner Frau. Sollte vorzeitig ein Alarm ausgelöst werden, würde die Zielperson Zeit haben, in den Raum zu flüchten – und die Operation müsste beendet werden. Allem Anschein nach war der Panikraum uneinnehmbar. Dieser stellte das einzige komplexe technische Element in einem ansonsten simplen System dar. Neben den hochmodernen elektronischen Schlössern verfügte der Raum über mehrere Bolzenschlösser. Auch hier der altmodische Ansatz – ein Bolzenschloss ließ sich nicht hacken.
Jetzt ging der Mann langsam den Strand hinauf, wobei er sich im Schatten bewegte. Kurz darauf befand er sich im Dünengürtel. Er trug ein Outfit aus eng anliegender schwarzer Seide, die freien Hautpartien waren mit Schminke geschwärzt. Er hatte für die Operation eine mondlose Nacht an einem Wochentag Ende Dezember ausgewählt. Der Strand und die Stadt waren menschenleer.
Geräuschlos bewegte er sich in dem Dünengürtel, wobei er sich in den Senken hielt, bis er zum höheren Gelände gelangte, das zu dem Anwesen führte. Ein mit Gestrüpp bewachsener Hang endete vor einer drei Meter hohen Mauer mit einer Reihe spitzer Eisenstifte obendrauf, welche die Grundstücksgrenze markierte. Auf der anderen Seite befand sich eine dichte Buchsbaumhecke, die einen lang gestreckten, kurz geschnittenen Rasen umgab, der zum Vordereingang der Villa führte.