Er strich mit der Hand über die Mauer. Der raue Naturstein bot einem erfahrenen Freeclimber, so wie er es war, genügend Halt für Hände und Füße, um daran hinaufklettern zu können. Er wartete auf das zweite Vibrationssignal, und als es kam, erklomm er mit ein paar einfachen Bewegungen die Mauer. Er wusste, dass die Eisenstifte mehr zur Abschreckung als zum Schutz dienten und an der Oberseite ein unsichtbarer Infrarot-Unterbrechungsstrahl verlief, der zur Überwachung der Grundstücksgrenze diente.
Als er über die Mauer kletterte, sorgte er dafür, dass er diesen Strahl unterbrach.
Auf der anderen Seite sprang er, im sichtgeschützten Bereich zwischen der Hecke und der Innenseite der Mauer, auf den Boden. Dort, in einer dunklen Ecke, unsichtbar im tiefen Schatten, ging er in die Hocke und wartete. Durch Lücken in der Hecke waren die weite Rasenfläche und die Fassade des Hauses gerade noch zu erkennen. Das Licht aus den Fenstern spendete, neben einigen geschmackvoll angeordneten Strahlern, so viel Umgebungslicht, dass die Rasenfläche erhellt wurde. Dieses Licht war Fluch und Segen zugleich.
Kurz darauf hörte er auf der gegenüberliegenden Seite zwei Wachleute mit einem Hund über den Rasen kommen. Das neuerliche Vibrieren seines Mobiltelefons markierte ihre Ankunftszeit. Sie waren sozusagen pünktlich auf die Minute. Seine gründlichen Planungen hatten sich als richtig erwiesen. Er wusste, dass Outdoor-Infrarot-Unterbrechungsstrahlen wie diese immer mal wieder von Vierbeinern und Vögeln verursachte Fehlalarme auslösten. Das würde vermutlich auch bei diesem Strahl der Fall sein. Doch um sicherzugehen, hatte er in den vorhergehenden Nächten in unregelmäßigen Abständen ein kleines, beschwertes Stück Segeltuch auf die Mauer geworfen und es zurückzogen, um auf diese Weise den Strahl an genau dieser Stelle zu unterbrechen, was dann auch die gleiche routinemäßige Suchaktion auslöste, die er auf den jetzigen Zeitpunkt festgelegt hatte.
Er konnte das Hecheln des Hundes hören, während sich die Gruppe der Hecke näherte, und das aufgebrachte Gemurmel der beiden Männer. Normalerweise waren Soldaten von Sonderkommandos darin geschult, nicht zu reden und lediglich per Handsignal zu kommunizieren. Nicht nur das: Er roch sogar Zigarettenrauch.
Diese Männer waren nachlässig geworden.
»Hoffentlich erwischt Scout diesmal das kleine Viech«, sagte einer der Männer.
»Jaa, is’ wahrscheinlich wieder so ’n blödes Eichhörnchen.«
Plötzlich winselte der Hund. Der hatte es gerochen.
Einer der Männer sagte zu dem Hund: »Scout, hol’s dir. Los, hol’s dir.«
Die Männer machten den Hund von der Leine los, und er stürmte durch die Lücke in der Hecke – lief geradewegs auf ihn zu, kein Bellen, keine Warnung, ein Hund, der aufs Töten abgerichtet war. Er wappnete sich und stellte sich dem Hund offen entgegen, als dieser auf ihn zusprang. Mit einem Streich seines SOG-Messers durchtrennte er dem Tier Kehle und Luftröhre. Es röchelte, versetzte ihm im Fallen einen Streifhieb und stürzte direkt vor ihm auf den Boden.
»Hey – hast du das gehört?«, fragte einer der Männer leise. »Scout? Scout? Komm zurück, Scout. Komm zurück.«
Stille.
»Was zum Teufel?«
»Scout, bei Fuß.« Jetzt ein wenig lauter.
»Sollen wir Unterstützung anfordern?«
»Noch nicht, verdammt noch mal. Er ist wahrscheinlich losgestürmt und jagt das Eichhörnchen. Ich geh da mal rein und sehe nach.«
Er hörte, dass der erste Wachmann sich geräuschvoll in die Hecke drängelte. Verdammt, die Sache erweist sich als zu leicht, dachte er. Aber es würde schwieriger werden, dessen war er sich ganz sicher.
Immer noch im Dunkeln ging er in die Hocke, bereit, loszuspringen. Als der lärmende Tölpel näherkam, sprang er auf, stach ihm das SOG in den Hals und riss es zur Seite, wodurch er die Luftröhre des Opfers durchtrennte, bevor es auch nur einen Laut von sich geben konnte. Noch während der Mann mit dem Gesicht nach unten zu Boden stürzte, stieß er ihn mit der Schulter beiseite und rannte los. Er stürmte durch die Hecke wie ein Linebacker, brach daraus hervor und stürzte sich auf den zweiten Mann, der rund drei Meter entfernt im Freien stand und noch immer seine Zigarette rauchte. Der Wärter schrie auf, griff nach seiner Handfeuerwaffe und schaffte es gerade noch, sie teilweise aus dem Holster zu ziehen, ehe ihm der Eindringling im Sprung mit dem SOG die Kehle durchtrennte. Der Wachmann fiel auf den Rücken und der Mann auf ihn, wobei ihm das arterielle Blut seines Opfers ins Gesicht spritzte. Die Waffe schlitterte auf dem Rasen davon, ohne dass ein Schuss daraus abgegeben worden war.
Der Mann lag auf dem Leichnam, der noch einige Sekunden lang zuckte, ehe er sich nicht mehr rührte. Er wartete, reglos und lauschend. Die Aktion hatte in rund hundert Metern Entfernung vom Haus stattgefunden, und er war weit genug entfernt, dass man ihn in der Dunkelheit nicht sehen konnte. Niemand dürfte den erstickten Schrei des Mannes gehört haben. Eigentlich müssten die am Haus und auf dem Grundstück installierten Unterbrechungsstrahlen bei einem allgemeinen Alarm oder Einbruchsversuch reagieren, doch nichts geschah.
Nachdem sich der Eindringling vergewissert hatte, dass kein Alarm ausgelöst worden war, erhob er sich von dem toten Wachmann. Er hockte sich hin, durchsuchte die Leiche, nahm ihr ein Funkgerät, zwei Magnetschlüsselkarten, eine Taschenlampe und die Dienstmütze ab. Er schaltete das Funkgerät ein und sah, dass es auf Kanal 15 im UKW-Bereich eingestellt war. Er beließ es auf Empfang und steckte es sich hinter den Hosenbund, ließ die Waffe, wo sie war, setzte die Dienstmütze auf und steckte sich die Magnetschlüsselkarten in die Hemdtasche.
Er packte die Leiche an den Füßen und schleifte sie zurück in die Hecke, wobei er sie in der Nähe des Ortes versteckte, wo auch der Partner des Mannes lag. Dann ging er in der Lücke zwischen Hecke und Mauer nach Westen. Als er die Ecke des Grundstücks erreicht hatte, lief er weiter Richtung Norden, laut seinem GPS fünfhundert Meter. Inzwischen befand er sich auf der anderen Seite des Hauses und musste nun eine hundertfünfzig Meter breite Rasenfläche überqueren.
Dort wartete er auf das leise Vibrieren des Zeitgebers seines Mobiltelefons, womit die nächste Phase eingeleitet würde.
Als das Vibrieren sich bemerkbar machte, zog er sich die Mütze des Wachmanns tiefer ins Gesicht und ging zielstrebig und mit eingeschalteter Taschenlampe, mit der er hierhin und dahin leuchtete, über die Rasenfläche. Aus der Nähe betrachtet, konnte er mit der Mütze zwar niemanden täuschen, doch aus der Ferne würde man ihn nicht als Eindringling erkennen.
Er war fast am ganzen Körper mit Blut bespritzt und wusste, dass die anderen Hunde, sollten sie ihn riechen, durchdrehen würden. Was aber nur dann geschehen würde, sollte der Wind, der im Augenblick aus östlicher Richtung wehte, auf West drehen. Dies aber war bei dieser Wetterlage und zu dieser nächtlichen Stunde so gut wie ausgeschlossen.
Unbemerkt überquerte er die offene Rasenfläche und verschwand gerade in den Büschen an der Seite des Hauses, als ein Mann auf Patrouille mit einem Hund um die Ecke zur Vorderseite des Hauses bog und mitten über den Rasen ging. Noch immer begünstigte die Windrichtung den Eindringling. Er wartete im Dunkeln, bis der Wachmann mit dem Hund ganz um die Ecke gekommen war, dann ging er zwischen Büschen und Haus zum Rand der mit Natursteinplatten gepflasterten Terrasse, die den Pool umgab. Entlang der Terrasse verlief eine lange Pergola. Diese nutzte er als Deckung, bis er zu einer kleinen Hütte kam, in der die Pumpen und Filter für den Pool untergebracht waren. Die Tür war abgeschlossen, allerdings die übliche Ware, die mit der Hütte mitgeliefert wurde, und daher primitiv. Er knackte das Schloss und betrat den beengten, dunklen Raum, schloss die Tür aber nicht ganz.