16
Diesmal bestand Pendergast darauf, den Rolls, mit Proctor am Steuer, zu nehmen, und D’Agosta war zu müde, um Einwände dagegen zu erheben. Es war der 22. Dezember, nur noch zwei Tage bis Heiligabend. In der vergangenen Woche hatte D’Agosta kaum Zeit gefunden, mehr als ein paar Stunden zu schlafen, und erst recht nicht die Zeit gehabt, darüber nachzudenken, was er Laura, seiner Ehefrau, schenken sollte.
Proctor hatte sie an diesem grauen und bitterkalten Morgen hinaus nach East Hampton gefahren. D’Agosta war dankbar für den Raum, den der Rücksitz des großen Fahrzeugs bot, vom kleinen Klappschreibtisch aus poliertem Holz, auf dem er den Papierkram erledigen konnte, ganz zu schweigen. Während der Rolls langsam auf die Further Lane bog, kamen das Anwesen und die Aktivitäten in der Nähe in Sicht. Absperrungen der Polizei auf der Straße, Tatortabsperrbänder, die im kalten Dezemberwind flatterten, der Straßenrand gesäumt von den geparkten Kleinlastern der Spurensicherung und der Rechtsmedizin. Eine Gruppe Uniformierter, einige von ihnen mit Klemmbrett in der Hand, lief in der Gegend herum und versuchte, sich der eisigen Kälte zu erwehren.
»Verdammt. Zu viele Leute am Tatort.«
Als sie auf den provisorischen Parkplatz fuhren – eine mit Tatortband und Schildern markierte Grasfläche –, wandten alle die Köpfe und glotzten Pendergasts Silver Wraith an.
Er stieg auf der einen Seite, Pendergast auf der anderen Seite aus. Nachdem D’Agosta seinen Mantel zum Schutz vor dem eiskalten Wind, der vom Atlantik her wehte, zugeknöpft hatte, steuerte er auf den Kleinlaster mit der Einsatzzentrale zu, Pendergast im Schlepptau.
In dem kleinen Raum fand er den Polizeichef von East Hampton. D’Agosta hatte bereits mit ihm telefoniert und dabei erleichtert festgestellt, dass der Mann ein Profi war. Jetzt war er noch froher, als er ihn vor sich sah: ein stämmiger älterer Herr mit eisengrauem Haar und Schnurrbart und einer leutseligen Art.
»Sie müssen Lieutenant D’Agosta sein«, sagte er, stand auf und schüttelte ihm kräftig die Hand. »Chief Al Denton.«
Viele Kleinstadtpolizisten konnten es nicht ertragen, mit der New Yorker Polizei zusammenzuarbeiten, vielleicht aus gutem Grund, aber diesmal spürte D’Agosta, dass er die Zusammenarbeit bekommen würde, die er brauchte. Als er sich umwandte, um Pendergast Platz zu machen, damit der sich vorstellen konnte, stellte er verwundert fest, dass der Agent verschwunden war.
»Soll ich Sie herumführen?«, fragte Denton.
»Äh, ja, natürlich. Danke.« Typisch Pendergast.
Denton zog sich rasch einen Mantel über. D’Agosta folgte ihm wieder nach draußen in den windigen Morgen. Sie überquerten die Further Lane und gelangten zum Haupttor des Grundstücks, einem riesigen, teilweise mit Goldfarbe gestrichenen Monstrum aus Gusseisen, das wohl mehrere Tonnen wog. Das Tor stand offen und wurde von zwei Polizisten bewacht, einer hielt ein Klemmbrett in der Hand. Man sah ein Gestell mit Overalls, Mundschutzmasken, Handschuhen und Stiefeln, aber der Chief winkte D’Agosta daran vorbei. »Das Spurensicherungsteam hat das Haus und den Großteil des Grundstücks bereits untersucht.«
»Das ging aber schnell.«
»Hier draußen bei diesen winterlichen Temperaturen müssen wir schnell handeln, sonst ist das Beweismaterial nicht mehr aussagekräftig. Deshalb haben wir aus dem ganzen East End Tatortermittler hinzugezogen. Sagen Sie mal, wo steckt eigentlich dieser Typ vom FBI, von dem Sie sagten, er würde mitkommen?«
»Er muss irgendwo hier in der Nähe sein.«
Der Chief runzelte die Stirn. D’Agosta konnte es ihm nicht verübeln. Es galt als unhöflich, nicht mit den örtlichen Polizeibehörden zusammenzuarbeiten. Sie traten durch das Tor, überquerten eine Bereitstellungsfläche unter einem Zelt und gingen dann über die mit Kies bestreute Auffahrt, die zur Villa führte. Eine riesige Bausünde aus Beton; das Haus sah aus wie ein Haufen übereinandergestapelter Rohbaudecken, gestützt von Glasscheiben, und wirkte ungefähr so warm und gemütlich wie der Kreml.
»Also dieser Russe, wie hieß der noch gleich –?«
»Bogatschjow.«
»Bogatschjow. Seit wann wohnte er hier in East Hampton?«
»Er hat das Grundstück vor ein paar Jahren gekauft, der Bau des Hauses hat zwei Jahre gedauert, vor einem halben Jahr ist er eingezogen.«
»Hat er Ihnen irgendwelche Probleme bereitet?«
Denton schüttelte den Kopf. »Nichts als Probleme. Von Anfang an. Als Bogatschjow das Grundstück kaufte, hat der Verkäufer behauptet, er sei betrogen worden, und hat geklagt. Der Fall ist immer noch anhängig vor Gericht. Bogatschjow hat mitten in der Nacht ein historisches Schindelhaus abreißen lassen. Er behauptete, nicht gewusst zu haben, dass es unter Denkmalschutz steht. Es wird deswegen prozessiert. Dann hat er diese Monstrosität bauen lassen, womit er gegen einen ganzen Haufen städtischer Bauordnungsbestimmungen verstoßen hat, alles ohne die entsprechenden Baugenehmigungen. Noch mehr Gerichtsprozesse deswegen. Und dann hat er die Handwerker über den Tisch gezogen, seine Haushaltshilfe übers Ohr gehauen, die Jungs übers Ohr gehauen, die seinen Rasen mähen. Haufenweise Gerichtsprozesse. Er gehört zu derjenigen Sorte von Arschlöchern, die einfach machen, was sie wollen. Es wäre keine Übertreibung zu sagen, dass er der meistgehasste Mann in unserer Stadt ist – besser gesagt, war.«
»Womit hat er denn sein Geld verdient?«
»Er ist einer von diesen russischen Oligarchen. Internationaler Waffenhändler oder irgendwas genauso Unangenehmes. Das Haus, das Land, alles gehört einer Briefkastenfirma – zumindest steht das so in seiner Steuerklärung.«
»Es gibt also jede Menge Leute, die ihn gerne tot sehen würden?«
»Zum Teufel, ja. Die halbe Stadt. Und da sind nicht mal die Leute eingerechnet, die er bei seinen Geschäften betrogen oder sogar umgebracht hat.«
Am Haus angekommen, erblickte D’Agosta Pendergast, der auf der anderen Seite um die Ecke bog.
Auch Denton hatte ihn gesehen. »Hey, der Mann da darf gar nicht hier sein.«
»Er ist –«
»He, Sie!«, rief Denton und verfiel in Laufschritt, D’Agosta folgte dicht dahinter. Pendergast blieb stehen und drehte sich um. Wegen seines langen schwarzen Mantels und des hageren, elfenbeinfarbenen Gesichts ähnelte er auf unheimliche Weise Gevatter Tod.
»Mister –!«
»Ah, Chief Denton.« Pendergast ging ein paar Schritte, zog sich einen schwarzen Lederhandschuh von der bleichen Hand, schüttelte dem Chief die Hand und verneigte sich kurz. »Special Agent Pendergast.« Dann wandte er sich wieder um und setzte seinen Weg fort, wobei er mit raschen Schritten den Rasen überquerte und auf die hohe Hecke an der Meeresseite des Grundstücks zusteuerte.
»Hm, wenn Sie irgendetwas benötigen –?«, rief ihm der Chief hinterher.
Pendergast wedelte hinter seinem Rücken mit der Hand. »Ich brauche Vincent. Kommen Sie?«
D’Agosta eilte Pendergast hinterher, wobei er Mühe hatte, mit ihm Schritt zu halten, der Chief unmittelbar dahinter.
»Möchten Sie das Haus durchsuchen?«, gelang es D’Agosta zu fragen.
»Nein.« Pendergast beschleunigte seine Schritte weiter, seine Mantelschöße flatterten. Dabei ging er leicht nach vorn gebeugt, als wolle er sich gegen die steife Brise stemmen.
»Wo wollen Sie denn hin?«, fragte D’Agosta, erhielt jedoch keine Antwort darauf.
Schließlich kamen sie an der Hecke an, die, wie D’Agosta sah, eine hohe Natursteinmauer verdeckte. Hier drehte sich Pendergast blitzartig um. »Chief Denton, hat sich Ihr Spurensicherungsteam diesen Bereich schon einmal angesehen?«