Das war am gestrigen Nachmittag gewesen. D’Agosta blieben noch zwölf Stunden, dann musste er etwas vorweisen können.
Unmittelbar nach Singletons Anordnung kamen wie ein Fluch die Ergebnisse der Überwachungskamera aus der Fountainhead-Bar in Piermont zurück. Diese bestätigten zweifelsfrei, dass Baugh tatsächlich in der Bar gewesen war. In der Nacht, als Grace Ozmian ermordet wurde, hatte er von drei Uhr nachmittags bis nach vierundzwanzig Uhr Getränke gemixt. Als D’Agosta die Zeit ausrechnete, die man benötigte, um von Piermont nach Queens und wieder zurück zu kommen, und diese Zeit mit dem möglichen Zeitraum verglich, der den Zeitpunkt des Mordes an der jungen Frau betraf, wurde ihm klar, dass Baugh das Mädchen auf keinen Fall ermordet haben konnte. Somit war diese Ermittlungsspur – die ihm so vielversprechend erschienen war – eiskalt. Es sei denn, Baugh hatte einen Killer engagiert … was D’Agostas Einschätzung nach allerdings höchst unwahrscheinlich war. Baugh war der Typ, der so was selber erledigte.
Curry bremste und brummelte einen Fluch, als ihm eine schwarze Stretchlimousine die Vorfahrt nahm, während er sich durch den Stau vorankämpfte, der bis zum Holland Tunnel reichte. D’Agostas größte Hoffnung, irgendeine Art von berichtenswertem Durchbruch zu erzielen, stellte die Vernehmung dar, zu der er jetzt unterwegs war, eine sehr vielversprechende Spur im Mordfall Cantucci. Er wusste mit fast hundertprozentiger Sicherheit, dass der Mörder mit der Sicherheitsfirma Sharps & Gund in Verbindung stand – als Mitarbeiter oder Ex-Mitarbeiter. Er befand sich auf dem Weg zur Befragung eines gewissen William Paine, einem der beiden Sharps-&-Gund-Techniker, die Cantuccis Haus mit der Sicherheitsanlage ausgerüstet hatten. Zwar wusste D’Agosta bereits, dass Paine selbst nicht tatverdächtig war – er hatte verifiziert, dass der Mann in den vergangenen drei Wochen in Dubai gewesen war, zum Zweck der Installierung einer umfangreichen Sicherheitsanlage. Er war sich jedoch sicher, dass Paine ihm Hinweise auf andere mögliche Tatverdächtige geben konnte. Wichtiger noch: Paine könnte bestätigen, dass es sich bei dem Mord um die Tat eines Insiders handelte. Mehr als alles andere benötigte D’Agosta hieb- und stichfeste Informationen, die Sharps & Gund mit dem Mord an Cantucci in Verbindung brachten, nicht bloße Spekulationen, sondern etwas so Solides, dass man damit an die Öffentlichkeit gehen konnte.
Sie verließen den Holland Tunnel und fuhren durch Hudson County, über die Newark Bay und durch die Industriewüste von Port Newark, bis sie schließlich in dem kleinen Wohngebiet Maplewood ankamen. Einmal abbiegen, dann noch einmal, nach dem dritten Mal waren sie am Ziel. Dort stand, am Kantstein geparkt, Pendergasts Rolls. Proctor saß als dunkle Gestalt hinterm Steuer und wartete.
Das Haus war ein unscheinbarer, zweistöckiger Bau im Kolonialstil mit weißen Schindeln, davor brauner Rasen und ein Garten, dessen Pflanzen in der frühwinterlichen Kälte verdorrt waren. Es muss vergangene Woche in New Jersey geschneit haben, dachte D’Agosta, denn auf dem Rasen sah man hier und da noch kleine Flächen mit harschigem Schnee.
Curry parkte hinter dem Rolls, dann stiegen sie aus und gingen zur Haustür, klingelten. Ein großer, dicker Mann kam mit schweren Schritten an die Tür und stellte sich ihnen als Paine vor. »Das FBI ist schon da«, sagte er mürrisch, während sie hinter ihm ins Wohnzimmer gingen.
Pendergast, so hager und blass wie immer, saß auf dem Sofa. D’Agosta holte sein iPad hervor, auf dem er sich manchmal Notizen machte, Curry zückte seinen Stenoblock. Pendergast machte sich niemals Notizen, er schien auch nie Papier und Bleistift bei sich zu haben.
»Lieutenant«, sagte Pendergast, »ich habe auf Sie gewartet und dem heftigen Verlangen widerstanden, Fragen zu stellen.«
D’Agosta nickte, wodurch er seine Dankbarkeit zeigte. Er und Curry nahmen Platz, Paine ebenfalls.
»Lassen Sie mich Ihnen zunächst versichern, dass Sie nicht tatverdächtig sind«, sagte D’Agosta. »Haben Sie das verstanden?«
Paine nickte und legte die Hände zusammen. Er sah ein bisschen vernachlässigt aus, seine Augen blutunterlaufen, die Kleider zerknittert, die Haare zerzaust. Jetlag vielleicht? »Ich möchte so hilfreich sein, wie ich nur kann«, sagte er in einem Tonfall, der das genaue Gegenteil nahelegte.
D’Agosta stellte ihm zunächst die üblichen Fragen hinsichtlich Alter, Wohnort, wie lange er schon bei Sharps & Gund arbeite und so weiter, worauf er kurze, wenig informative Antworten erhielt. Schließlich kam er zum Thema.
»Bitte beschreiben Sie uns das Sicherheitssystem in Cantuccis Haus. Wie es funktioniert, wie es installiert und vor allem wie es umgangen wurde.«
Woraufhin Paine die Arme vor der Brust verschränkte und das System ganz allgemein zu beschreiben begann, im Grunde so, wie es Marin zuvor auch getan hatte. D’Agosta hörte zu, machte sich ein paar Notizen, wobei sich ihm der Eindruck aufdrängte, dass der Typ irgendetwas verschwieg. Er stellte mehrere bohrende Fragen zu Details des Systems und bekam darauf wieder nur vage Antworten und Ausflüchte zu hören, bis Paine schließlich sagte: »Ich kann wirklich keine weiteren Fragen technischer Natur beantworten.«
»Und wieso nicht?«
»Sie müssen doch wissen, dass ich eine Geheimhaltungsvereinbarung über das alles unterschrieben habe und nicht darüber sprechen darf. Ich könnte entlassen, sogar strafrechtlich verfolgt werden.«
»Hat Ingmar Ihnen mit Vergeltung gedroht für den Fall, dass Sie mit uns reden?«, fragte D’Agosta.
»Nicht direkt, aber die allgemeine Botschaft war deutlich.«
»Mr. Paine, möchten Sie die Befragung beenden? Sollte dies der Fall sein, so müssen Sie wissen, dass wir einen richterlichen Beschluss erwirken und Sie mit aufs Präsidium nehmen, und Sie dadurch gezwungen sein werden, unsere Fragen unter Eid zu beantworten.«
»Das ist mir klar.«
»Wollen wir das so machen?«
»Ja. Denn auf die Weise werden Sie mir den Rücken freihalten.«
Dieser Dreckskerl, der blufft doch. D’Agosta beugte sich vor. »Glauben Sie mir, wir werden uns erinnern, wie hilfreich Sie waren, und den Gefallen erwidern.«
Paine erwiderte seinen Blick und blinzelte hinter den großen Brillengläsern. »Na schön. Je härter Sie mich rannehmen, desto besser wirkt das auf Ingmar. Schauen Sie, Lieutenant, ich brauche meinen Job.«
Worauf sich Pendergast mit sanfter, einschmeichelnder Stimme zu Wort meldete. »Was Sie also benötigen, Mr. Paine, ist Zwang.«
»Ja, so ungefähr.«
»Da wir wenig Zeit haben und es mehrere Tage dauern wird, bis wir einen richterlichen Beschluss erwirkt haben, frage ich mich, ob es wohl eine Möglichkeit gibt, wie wir Sie sofort, hier und jetzt, zwingen können.«
Paine sah Pendergast ungläubig an. »Und wie soll das gehen? Ist das eine Drohung?«
»Um Himmels willen, nein! Ich denke nur daran, ein kleines Drama zu inszenieren. Sergeant Curry, ich nehme an, Sie haben eine Ramme in Ihrem Streifenwagen?«
»Immer.«
»Ausgezeichnet. Wir alle machen jetzt Folgendes: Wir werden das Haus verlassen, wegfahren, dann kurz darauf mit Sirenengeheul zurückkehren. Mr. Paine, Sie werden sich weigern, aufzumachen. Sergeant Curry, Sie werden im Mittelpunkt stehen und die Tür auf so angemessen spektakuläre und zerstörerische Weise einschlagen, dass alle Nachbarn das mitbekommen. Wir werden Mr. Paine in Handschellen aus dem Haus führen – nachdem wir seine Kleidung und seine Haare angemessen durcheinandergebracht und dabei vielleicht auch ein paar Knöpfe von seinem Hemd abgerissen haben – und ihn aufs Präsidium bringen, wo wir die Vernehmung zu Ende führen. Und das alles tun wir, ohne dass eine Vorladung nötig wäre, weil Sie, Mr. Paine, auf Video einwilligen werden – zum Zweck der Strafverfolgung, verstehen Sie, wobei Ihr Arbeitgeber nie etwas davon erfahren wird –, dass das Ganze völlig freiwillig geschah und dass Sie Ihre Rechte kennen und den ganzen Rest.«