Pendergast gab keine Antwort, D’Agosta konnte seine Miene nicht deuten. »Ich meine, dieser Ingmar, der hat doch die Mittel, das Motiv und die Fähigkeiten.«
»Oh, Ingmar war zu keinem Zeitpunkt tatverdächtig.«
»Was soll das heißen? Sie haben ihm doch ins Gesicht gesagt, dass er eine ›Person von Interesse‹ ist.«
»Nur, um ihm Angst einzujagen. Er steckt nicht hinter dem Mord.«
»Wieso sind Sie da so sicher?«
»Zum einen hätte er, um die Leiterplatte des Mobiltelefons auszutauschen, nicht den Servicewagen aufbrechen müssen – er hätte die Platine im Büro ersetzen können. Einen Servicewagen in einer Stadtstraße aufzubrechen ist riskant. Außerdem gab es keine Garantie, dass die beiden Männer ihren Wagen unbeaufsichtigt lassen würden.«
»Auch Lasher hätte den Austausch im Büro vornehmen können.«
»Nein. Lasher war vor dem Serviceeinsatz gekündigt worden.«
»Richtig, richtig, aber ich halte Ingmar trotzdem für tatverdächtig.«
»Mein lieber Vincent, wenn Ingmar Cantucci umbringen wollte, warum hätte er das auf eine Art und Weise tun sollen, die das eigene Unternehmen schädigt? Hätte Ingmar ihn umbringen wollen, hätte er das außerhalb des Hauses getan.«
D’Agosta brummelte irgendetwas Unverständliches. Pendergasts Argument ergab Sinn, das musste er zugeben. »Also bleibt nur noch Lasher als tatverdächtig übrig. Ist es das, was Sie glauben?«
»Ich glaube gar nichts. Und ich würde Ihnen raten, ebenfalls nichts zu glauben – oder erst dann, wenn wir mehr Beweise haben.«
D’Agosta war zwar anderer Meinung, dachte aber nicht im Traum daran, mit Pendergast zu streiten. In der nachfolgenden Stille sagte Curry, der von seinem Handy aufblickte: »Lasher wohnt immer noch in der West Fourteenth Street.«
»Gut, schicken wir sofort ein Team hin, die sollen eine freiwillige Vorüberprüfung vornehmen. Nichts Tiefgehendes, nur um herauszufinden, ob er als Tatverdächtiger infrage kommt, ob er ein Alibi hat.« Er drehte sich zu Pendergast um. »Möchten Sie gehen? Ich muss hierbleiben, ich habe noch haufenweise Papierkram zu erledigen.«
»Ich habe leider schon eine andere Verabredung.«
D’Agosta sah dem schwarz gekleideten Pendergast dabei zu, wie er das Büro verließ. Hoffentlich würden seine Jungs mit ausreichend Material zurückkommen, um den Medien die Nachricht überbringen zu können, die Singleton und der Bürgermeister am Ende des Tages so verzweifelt haben wollten – sonst würde man ihm deswegen ewig Vorhaltungen machen.
20
Als Pendergast diesmal das Büro betrat, zeigte Howard Longstreet – der in einem rissigen, bequemen Ledersessel saß und in einem als geheim gestempelten Bericht las – wortlos auf den zweiten Sessel. Pendergast nahm darauf Platz.
Longstreet überflog noch ein, zwei Minuten lang das Schriftstück, legte es in einen offenen Tresor neben seinem Schreibtisch, machte die Tür zu und drehte das Schloss. Dann sah er hoch. »Wie ich höre, bist du aktiv geworden und ermittelst in diesen Enthauptungsmorden.«
Pendergast nickte.
»Vielleicht könntest du mich über den letzten informieren.«
»Der dritte Mord ist, so wie der zweite, sorgfältig geplant und ausgeführt worden. Die Sicherheitssysteme wurden in einer, wie es scheint, präzisen und geordneten Abfolge ausgeschaltet. Die Herausforderung, dass das Opfer einen Schutzraum besaß, wurde auf höchst intelligente Art und Weise gemeistert. Wie es aussieht, wurde der gesamte Ablauf bis zum letzten Schritt sorgfältig choreografiert.«
»Wie du das so sagst, hört es sich an wie eine Art Ballett.«
»Es war eines.«
»Gibt es irgendwelche neuen Beweise?«
»Wir haben den Herstellernamen und das Modell des Fluchtboots, dazu die Motornummer. Die allerdings nicht erhellend sind. Das Boot wurde an jenem Abend als gestohlen gemeldet, aus einem nahe gelegenen Jachthafen in Amangansett, wir haben aber keine Sachbeweise finden können. Es ist uns jedoch gelungen, unweit des Tatorts einen einzelnen, bemerkenswert deutlichen Schuhabdruck zu finden – Schuhgröße siebenundvierzig.«
Longstreet brummte: »Bewusst platziert, um uns in die Irre zu führen.«
Ein Lächeln. »Kann sein.«
»Die Polizei kooperiert nach wie vor?«
»Der Polizeichef von East Hampton war etwas ungehalten, was eine gewisse Spritztour betrifft, die ich am Strand unternommen habe. Aber er und das NYPD sind nach außen hin dankbar für unsere Unterstützung.«
Longstreet trank einen Schluck von seinem Arnold Palmer und stellte das Glas auf einen Untersetzer auf einem Tisch in der Nähe ab. »Als wir uns das letzte Mal gesprochen haben, Aloysius, hatten wir es mit zwei Mordfällen zu tun, bei denen beide Opfer enthauptet wurden. Ich habe dich gebeten festzustellen, ob ein Zusammenhang zwischen den Morden besteht, sofern beide Morde das Werk eines Täters sind. Jetzt haben wir es mit drei solcher Morde zu tun, zusätzlich zu den sechs, die sich am ehesten als Kollateralschäden bezeichnen lassen, weshalb sich folgende Frage umso drängender stellt: Haben wir es hier mit einem Serienmörder zu tun?« Longstreet hob fragend die Brauen.
»Du kennst die Theorie des NYPD, nehme ich an?«
»Du meinst, dass eine Person Grace Ozmian ermordet hat und dieser Mord jemand anderen zum zweiten und zum dritten Mord inspiriert hat? Ist das auch deine Meinung?«
Pendergast hielt einen Moment lang inne, dann sagte er: »Die Ähnlichkeiten, was den Modus Operandi bei Opfer zwei und drei betrifft, sind auffallend. In beiden Fällen ist der Mörder methodisch, ruhig, absichtsvoll und außergewöhnlich gut vorbereitet vorgegangen. Es ist wahrscheinlich, dass es sich um das Werk ein und desselben Täters handelt.«
»Und der erste Mord?«
»Höchst anormal.«
»Was ist mit dem Motiv?«
»Unklar. Wir konzentrieren uns bei den ersten Morden auf zwei Tatverdächtige mit starken Motiven. Der Tatverdächtige im Mordfall Ozmian kommt nach unseren Vernehmungen nicht infrage. Der zweite Tatverdächtige, ein ehemaliger Angestellter von Sharps & Gund, wird bald verhört werden. Er sieht vielversprechend aus bislang.«
Longstreet schüttelte den Kopf. »Das ist das Merkwürdigste. Die Opfer scheinen so unverbunden zu sein, dass man sich kaum ein verbindendes Motiv vorstellen kann. Was hat ein Mafiaanwalt mit einem russischen Waffenhändler und dieser mit einem verantwortungslosen reichen Mädchen zu tun?«
»Ich würde die Behauptung wagen, dass das augenscheinliche Fehlen eines gemeinsamen Motivs in Wahrheit das Motiv selbst darstellen könnte.«
»Da haben wir’s wieder einmal, Aloysius, du sprichst in Rätseln.«
Statt zu antworten, winkte Pendergast ab.
»Du weichst immer noch meiner Frage aus. Stimmst du mit der Hypothese überein, dass der erste Mord von einer anderen Person verübt wurde als die Morde zwei und drei?«
»Alles dreht sich um die Anomalie der ersten Enthauptung – warum vierundzwanzig Stunden warten? Die anderen beiden Enthauptungen wurden vorgenommen, als die Opfer fast noch im Sterben lagen.«
»Du weichst meiner Frage nach wie vor aus.«
»Ich finde noch etwas anderes interessant. Gleichgültig, wie gewalttätig oder schmutzig die Morde waren, die Enthauptungen wurden mit großer Sorgfalt durchgeführt. Das würde dagegen sprechen, dass der erste Mord von einem anderen Mörder verübt worden ist. Darüber hinaus scheint die erste Leiche – im Gegensatz zu den anderen – ganz bewusst versteckt worden zu sein.«
Longstreet brummte irgendetwas Unverständliches. »Interessant, wie du sagst – aber für sich genommen ohne Beweiskraft.«
»Wir haben es hier mit logischen Dilemmata zu tun. Es könnte sich, wie die Polizei annimmt, um eine Nachahmungssituation handeln, vor allem, weil die Morde zwei und drei mehrere Übereinstimmungen aufweisen und der erste Mord davon abweicht. Ebenso logisch ist allerdings, dass das Zusammentreffen von drei Enthauptungen im Lauf einer Woche stark auf einen einzelnen Mörder hinweist. Wir leiden an einer Knappheit an Beweisen.«