»Du und deine ›Knappheit an Beweisen‹ und ›logischen Dilemmata‹«, sagte Longstreet mürrisch. »Dergleichen hätte beinahe dazu geführt, dass uns dieser Aufklärungstrupp ugandischer Söldner umgelegt hätte – weißt du noch?«
»Und trotzdem sitzen wir heute hier, stimmt’s?«
»Stimmt.« Longstreet streckte den Arm aus und drückte einen Summer auf einer Gegensprechanlage in der Nähe. »Katharine? Bitte bringen Sie Agent Pendergast einen Arnold Palmer.«
21
Anton Ozmian saß in seinem Eckbüro hinter dem riesigen Schreibtisch aus schwarzem Granit und sah aus den nach Süden ausgerichteten Fenstern. Sein Blick ruhte auf den zahllosen Lichtern von Lower Manhattan, die sich im bewölkten Winterhimmel spiegelten.
Er schaute an dem hoch aufragenden Freedom Tower vorbei, vorbei an den Gebäuden des Battery Park und über den New Yorker Hafen in Richtung des dunklen Umrisses von Ellis Island. Dort hatte die Einwanderungsbehörde seine Großeltern, die per Schiff aus dem Libanon gekommen waren, abgefertigt. Ozmian war froh, dass nicht irgendein wichtigtuerischer, fremdenfeindlicher Beamter versucht hatte, den Namen in Oswald oder irgendeinen anderen Blödsinn zu ändern.
Sein Großvater war Uhrmacher und Fachmann für Uhrenreparaturen gewesen, so wie dessen Vater auch. Aber zum Ende des 20. Jahrhunderts starb der Beruf des Uhrmachers nahezu aus. Als Kind hatte Ozmian Stunden in der Werkstatt seines Vaters zugebracht, fasziniert von der Mechanik schöner Uhren – das fabelhafte System aus winzigen Federn, Rädchen und kleinen Drehflügeln, die das unergründliche Geheimnis namens »Zeit« sichtbar machten. Doch als er älter wurde, verlagerte sich Ozmians Interesse hin zu komplexen Systemen einer anderen Art: zu den Befehlsregistern, Akkumulatoren, Programmzählern, Stapelzeigern und anderen Elementen, aus denen Computer bestanden – und zur Assemblersprache, welche alle diese regierte. Dieses System war gar nicht unähnlich einer schönen Schweizer Armbanduhr, insofern das Endziel darin bestand, den größten Nutzen aus der geringsten Menge Energie zu beziehen. Und so funktionierte auch die Programmierung der Assemblersprache – wenn man ein echter Programmierfreak war, strebte man ständig danach, die Größe der Programme zu schrumpfen und jede Zeile Code doppelten oder dreifachen Dienst tun zu lassen.
Als junger Mann, der vor den Toren Bostons aufgewachsen war, hatte sich Ozmian nach dem College leidenschaftlich in eine Reihe ungewöhnlicher Hobbys vertieft – Komposition, Kryptografie, Fliegenfischen und sogar eine Zeit lang Großwildjagd. Doch seine Hobbys blieben auf der Strecke, als er eine Möglichkeit entdeckte, sein Interesse für Musik und Ziffern mit dem fanatischen Streben nach strengem Code zu verbinden. Es war diese Vermählung seiner Interessen, die ihm dabei half, jene Streaming- und Zeichencodierungstechnologien zu entwickeln, die schließlich das Rückgrat von DigiFlood bilden sollten.
DigiFlood. Er errötete bei dem Gedanken an sein Unternehmen, dessen Aktienkurs seit Jahren steil angestiegen und jetzt wegen einer nicht autorisierten Veröffentlichung der wertvollsten proprietären Algorithmen im Internet unter Druck geraten war.
Doch jetzt kehrte er – wie es so oft geschah – im Geiste zum Mord an seiner einzigen Tochter zurück … und an den Schmutz über sie, den dieser mutterlose Arschficker von einem Reporter, Bryce Harriman, über sie verbreitet hatte.
Ein lautes, dreimaliges Klopfen an der Bürotür unterbrach seine schweifenden Gedanken.
»Herein«, rief Ozmian, ohne den Blick vom Fenster zu lassen.
Er hörte, wie sich die Tür öffnete, die leisen Schritte von jemandem, der eintrat, wie sich die Tür schloss. Er blickte sich nicht um, denn er wusste ja sehr gut, wer da soeben das Zimmer betreten hatte. Seine ungewöhnlichste und geheimnisvollste Angestellte, die den vornehmen, uralten und ungewöhnlich langen Namen Maria Isabel Duarte Alves-Vettoretto trug. Im Lauf der Jahre hatte Alves-Vettoretto in vielen Funktionen für Ozmian gearbeitet: als rechte Hand, Vertraute, Terminüberwacherin – und Vollstreckerin. Er spürte, wie sie in einer respektvollen Entfernung von seinem Schreibtisch stehen blieb, und drehte sich zu ihr um. Sie war gedrungen, sportlich und ruhig, hatte dichtes mahagonifarbenes Haar und trug eng sitzende Jeans zu einer Seidenbluse mit Perlenhalsband. In all den Jahren hatte er niemanden gefunden, der auf so skrupellose Art und Weise effektiv war. Sie war Portugiesin, so schien es, mit altehrwürdigen Vorstellungen von Ehre, Rache und Treue, und ihre Vorfahren waren seit achthundert Jahren in machiavellistische Intrigen verstrickt. In ihr war diese Kunst zur Vollendung gekommen.
»Schießen Sie los«, sagte Ozmian, wandte sich von ihrem intensiven Blick ab und schaute wieder aus dem Fenster.
»Unsere privaten Ermittler haben einen vorläufigen Bericht über diesen Harriman vorgelegt.«
»Geben Sie mir die Kurzversion.«
»Alle Reporter sind von zweifelhaftem Charakter, deshalb lasse ich die lässlichen Sünden weg. Einmal abgesehen davon, dass er ein sensationsheischender, Rettungswagen verfolgender, Gerüchte verbreitender, hinterhältiger Journalist ist, ist er in Ordnung. Das Produkt teurer Privatschulen, die Familie gehört zur Ostküsten-Oberschicht – deren Geld in seiner Generation allerdings langsam versandet ist. Kurzum: Er ist sauber. Keine früheren Verurteilungen. Keine Drogen. Er hat mal als Reporter bei der Times gearbeitet, dann aber – aus Gründen, die hier nichts zur Sache tun – eine Seitwärtsbewegung zur Post vollzogen. Das mag zwar wie ein Karrierekiller erscheinen, aber Harriman hat es bei der Post ziemlich weit gebracht. In dem Bericht steht nichts, wo wir den Hebel ansetzen könnten.« Eine Pause. »Es … es gibt darin jedoch eine Information, die sich näher anzusehen lohnt.«
»Reden Sie weiter.«
»Seine Freundin – sie waren seit dem College zusammen – ist vor drei Jahren an Krebs verstorben. Er war sehr umtriebig und hat versucht, ihr in ihrem Kampf gegen die Krankheit beizustehen. Und nach ihrem Tod wurde das für ihn zu einer Art Mission. Er hat Artikel über Krebsvorsorge und mögliche neue Heilverfahren geschrieben und verschiedenen gemeinnützigen Krebspräventionsgruppen zu jeder Menge Publicity verholfen. Außerdem hat er, auch wenn er als Reporter nicht besonders viel verdient, im Lauf der Jahre für verschiedene Anti-Krebskampagnen gespendet, einiges davon aus eigener Tasche und einiges aus der Familienstiftung, insbesondere für die Amerikanische Krebsgesellschaft. Außerdem hat er selbst eine kleine Wohltätigkeitsstiftung auf den Namen seiner verstorbenen Freundin gegründet.«
Ozmian wischte das mit einer abschätzigen Handbewegung beiseite. Harrimans Wohltaten interessierten ihn nicht. »Was lohnt sich näher anzusehen, wie Sie sagten?«
»Es geht nur darum, dass dieses Interesse eine Möglichkeit nahelegt … wie man extremen Druck ausüben kann. Sollte sich die Notwendigkeit ergeben.«
»Hat er sonst noch etwas über meine Tochter geschrieben?«
»Nein. Seine jüngsten Artikel konzentrieren sich alle auf die nachfolgenden Morde. Er schlachtet sie aus, so weit wie nur irgend möglich.«
Es entstand eine Pause, während derer Ozmian die Skyline hinter den Fenstern betrachtete.
»Wie soll ich weiter vorgehen?«, fragte Alves-Vettoretto.
Einen langen Augenblick schwieg Ozmian. Dann stieß er einen tiefen Seufzer aus.
»Warten Sie ab«, sagte er. »Wenn ihn diese neuen Morde in Rage bringen, veröffentlicht er womöglich noch mehr Blödsinn über meine Grace. Das ist meine Sorge. Der Kampf gegen die feindliche Veröffentlichung unseres proprietären Codes frisst meine ganze Zeit auf – wenn dieser Harriman kein Problem mehr darstellt, würde ich mich lieber, wenn’s irgend geht, nicht ablenken lassen.«