»Verstehe.«
Und jetzt wandte sich Ozmian zum ersten Mal auf seinem Stuhl um. »Aber behalten Sie ihn und das, was er schreibt, im Auge. Nötigenfalls zerquetschen wir ihn wie die Kakerlake, die er ist, aber nur nötigenfalls.«
Alves-Vettoretto nickte. »Selbstverständlich.«
Ozmian drehte sich wieder um und wedelte abschätzig mit der Hand. Die Tür ging leise auf, schloss sich wieder. Aber er hörte es kaum. Und während er hinaus auf den Hafen schaute, war er in Gedanken bereits ganz woanders.
22
Eddy Lopez parkte den Funkstreifenwagen auf der Fourteenth Streeth im Halteverbot und meldete der Zentrale seine Ankunft, dann stieg er gleichzeitig mit seinem Partner, Jared Hammer, aus. Die beiden Detectives der Mordkommission ließen sich ein bisschen Zeit, um sich die Gegend genauer anzuschauen. Bei dem Haus an der 355 West Fourteenth Street handelte es sich um ein vierstöckiges Backstein-Apartmentgebäude neben einem Bestattungsunternehmen. Es war eines jener Viertel, die wegen der Aufwertung des Meatpacking District zwar plötzlich teuer geworden waren, in denen es aber nach wie vor heruntergekommene alte Gebäude und Wohnungen mit Blödmännern als Mieter gab.
Während er die Fassade betrachtete, wehte der kalte Wind ein altes Stück Zeitung über die Straße. Die Sonne war bereits untergegangen. Nicht einmal die Spur eines Abendrots erhellte den Himmel. Er bibberte.
»Wird minütlich kälter«, sagte Hammer.
»Bringen wir’s hinter uns.« Lopez tätschelte die Tasche seiner Uniformjacke, um zu checken, ob sein Dienstausweis, seine Dienstwaffe und seine Handschellen da waren. Dann sah er auf die Uhr und sagte laut: »Ankunft 17.46 Uhr.«
»Verstanden.«
Lopez wusste, dass D’Agosta Wert auf Genauigkeit legte und genervt war, wenn Zeiten abgerundet und Details ausgelassen wurden. Er wollte ihren Bericht um halb acht auf dem Schreibtisch haben – in weniger als zwei Stunden. Wenn Lopez von halb acht bis zum Jetzt rückwärts rechnete und sich vorstellte, was zeitlich gesehen nötig sein würde, um den Bericht D’Agosta auf den Tisch zu legen, dann blieben ungefähr noch zwanzig Minuten für die Befragung übrig. Kaum genug Zeit, um jemanden zum Reden zu bringen.
Vielleicht war dieser Lasher ja gar nicht zu Hause. Um Viertel vor sechs am 23. Dezember, einen Tag vor Heiligabend, war er möglicherweise shoppen. Hoffentlich war das der Fall, denn das würde bedeuten, dass er ausnahmsweise mal pünktlich nach Hause kommen würde, womöglich sogar ein paar Weihnachtseinkäufe erledigen konnte.
Er ging hinüber zur Gegensprechanlage. Da waren Namensschilder, und tatsächlich, neben dem Schild 5B stand LASHER.
Er drückte den Summer; sie warteten.
»Wer ist da?«, ertönte eine leise Stimme.
Er war also zu Hause. Schade. »Mr. Terence Lasher?«
»Ja?«
»Detectives Lopez und Hammer vom New York City Police Department. Wir würden gerne raufkommen und Ihnen ein paar Fragen stellen.«
Ohne dass sie eine Antwort hörten, öffnete sich die Tür mit einem Summen. Lopez blickte Hammer achselzuckend an. Das war ungewöhnlich: Normalerweise wurde ihnen ein Haufen Fragen gestellt, sobald sie sich ausgewiesen hatten.
Sie stiegen die schäbige Treppe hinauf. »Warum ist es eigentlich immer der oberste Stock, ohne Fahrstuhl?«, sagte Hammer kurzatmig. »Wieso können diese Leute nicht mal im Souterrain wohnen?«
Lopez schwieg. Hammer war übergewichtig und trieb keinerlei Sport, während er, Lopez, schlank und fit war und jeden zweiten Morgen um halb sechs aufstand, um im Fitnessstudio zu trainieren. Er mochte Hammer – der Typ war locker drauf –, aber er bedauerte es ein wenig, ihn als Partner zu haben, denn mit ihm ging alles langsamer. Außerdem wollte er dauernd anhalten, um Doughnuts zu holen. Aber er, Lopez, war ein Cop und hatte keine Lust, in einem Doughnut-Laden erwischt zu werden.
Sie stiegen polternd die Treppe hoch. Auf jeder Etage gab es zwei Wohnungen, die eine ging nach vorn, die andere nach hinten. Wohnung 5B befand sich auf der Rückseite des Gebäudes. Als sie auf dem Treppenabsatz ankamen, ließ Lopez Hammer ein bisschen Zeit, damit er verschnaufen konnte.
»Bereit?«, fragte Lopez.
»Ja.«
Lopez klopfte an. »Mr. Lasher? Polizei.«
Stille.
Lopez klopfte lauter. »Mr. Lasher, dürfen wir reinkommen? Wir sind von der Polizei. Wir haben nur ein paar Fragen, keine große Sache.«
»Polizei«, ertönte die Flüsterstimme hinter der Tür. »Warum?«
»Wir wollen Ihnen nur ein paar Fragen zu Ihrem früheren Job bei Sharps & Gund stellen.«
Keine Antwort.
»Bitte machen Sie auf«, redete Lopez weiter, »es wird nicht lange dauern. Eine reine Routine –«
Lopez hörte das leise, metallische Klicken einer Schrotflinte mit Kipplaufverschluss, schrie »Waffe!« und warf sich auf den Boden, unmittelbar bevor eine riesige Ladung ein Loch in die Tür riss. Aber Hammer war nicht so schnell und bekam die Ladung mitten in den Bauch, deren Wucht ihn nach hinten gegen die gegenüberliegende Wand schleuderte, wo er zusammensackte.
Lopez kroch auf allen vieren zu seinem Partner, als er einen zweiten Schuss hörte, der über ihm in die Wand einschlug. Er packte Hammer unter den Achseln und schleifte ihn in Sicherheit, raus aus der Schusslinie, um die Ecke auf den Treppenabsatz, während er gleichzeitig sein Funkgerät aus dem Holster zog.
»Beamter angeschossen!«, schrie er. »Es sind Schüsse gefallen, Beamter angeschossen.«
»O Scheiße«, sagte Hammer keuchend und presste die Hände auf die Wunde.
Das Blut quoll nur so zwischen seinen Fingern hervor. Lopez beugte sich über seinen am Boden liegenden Partner, zückte die Glock und zielte auf die Tür. Fast hätte er abgedrückt, hielt dann aber inne. Blind durch eine geschlossene Tür in eine unbekannte Wohnung zu schießen stellte eine Verletzung der Einsatzregeln der Polizei dar. Aber wenn das Arschloch die Tür aufmachte oder noch mal schoss, würde er ihn abknallen.
Doch es passierte nichts mehr. Auf der anderen Seite der beiden dunklen, ausgefransten Löcher in der Tür war es still.
Er hörte schon die Sirenen.
»O verdammt«, stöhnte Hammer und hielt sich den Unterleib, während sein weißes Hemd sich karmesinrot färbte.
»Halt durch, Partner«, sagte Lopez und drückte seine Hand auf die Wunde. »Halt einfach durch. Hilfe kommt.«
23
Vincent D’Agosta stand an der Ecke Ninth Avenue und blickte die Fourteenth Street entlang. Dort ging es zu wie im Irrenhaus. Das gesamte Viertel war komplett abgesperrt, das Zielgebäude evakuiert worden. Sie hatten die Notfalleinheiten und zwei Verhandlungsexperten vor Ort, einen gepanzerten Hubsteiger, einen Roboter, eine Hundestaffel und einen Haufen Scharfschützen; über ihnen kreiste ein Hubschrauber. Hinter den Polizeiabsperrungen hatte sich praktisch die komplette Medienmeute der Stadt versammelt – Netzwerkfernsehen, Kabelfernsehen, Printmedien, Blogger, alle waren da. Der Schütze verschanzte sich immer noch in der Wohnung. Bisher hatten sie ihm keinen Piep entlocken können, und gezeigt hatte er sich auch noch nicht. Der gepanzerte Hubsteiger manövrierte sich in Stellung, sodass man von dort freie Schussbahn haben würde. Vier Männer befanden sich auf dem Dach, legten Kevlarmatten aus und schlugen Löcher hinein, durch die sie Überwachungskameras in das Gebäude runterlassen konnten.
D’Agosta koordinierte den Einsatz per Funk, choreografierte ihn wie ein Ballett. Es gab mehrere Optionen, von denen jede die Pattsituation beenden könnte. Einerseits wollte er Lasher lebend fassen. Er war im Mordfall Cantucci von einer Person von Interesse zum Tatverdächtigen Nummer eins aufgestiegen, und tot würde er sehr viel weniger nützlich sein. Andererseits hatte der Dreckskerl einen Beamten angeschossen. Der primitive Teil in D’Agostas Hirn wollte ihn ausschalten. Hammer wurde derzeit operiert, war schwer verletzt, würde sogar möglicherweise nicht durchkommen.
Was für ein Desaster. Singleton hatte seine »Fortschritte« bekommen, das schon. Aber wer hätte gedacht, dass ein vergleichsweise routinemäßiger Auftritt zu so etwas ausarten könnte? Was für einen Scheiß er sich jetzt wohl anhören musste; doch D’Agosta schüttelte diese Gedanken rasch wieder ab. Zieh das hier einfach durch – über die Folgen kannst du dir später immer noch den Kopf zerbrechen.