Die Sonne war bereits vor Stunden untergegangen, vom Hudson her fegte ein eisiger Wind die Fourteenth Street entlang, die Temperatur war im Keller. Knisternd meldete sich sein Funkgerät. Curry. »Der Verhandler hat Kontakt. Kanal zweiundvierzig.«
D’Agosta stellte sein Headset auf Kanal 42 und hörte zu. Der Verhandler, der hinter einem kugelsicheren Schutzschild stand, redete mit dem Schützen durch die Tür. Es war schwer zu verstehen, was Lasher sagte, aber während die Verhandlung weiterging, kam D’Agosta ziemlich schnell dahinter, dass Lasher einer dieser Antiregierungstypen war, die glaubten, dass 9/11 von der Familie Bush verübt worden sei, dass das Massaker von Newton »fake news« sei und dass die US-Zentralbank und eine Gruppe internationaler Banker im Verborgenen die Welt regierten und sich verschworen hätten, ihm seine Knarren wegzunehmen. Aus diesen Gründen anerkannte er die Autorität der Polizei nicht.
Der Verhandler sprach jetzt mit ruhiger Stimme auf ihn ein. Er verfolgte dabei den übliche Ansatz, den Täter zur Aufgabe zu bewegen und aufzufordern, rauszukommen; niemandem würde etwas zuleide getan. Zum Glück war der Typ allein in der Wohnung und hatte keine Geisel genommen. Die Scharfschützen waren in Stellung gebracht, aber D’Agosta hatte der Regung widerstanden, ihnen den Befehl zu geben, auf Sicht zu schießen. Er spürte förmlich den Druck rings um sich herum, die Kette der Ereignisse in Gang zu setzen, die dazu führen würden, dass Lasher ums Leben kam. Das Ganze würde ziemlich leicht werden, und niemand würde ihm deswegen Vorwürfe machen.
Weitere zehn Minuten verstrichen. Der Verhandler kam nicht weiter. Lasher hatte die Anti-Establishment-Brause getrunken und war deshalb überzeugt, dass man ihn erschießen würde, wenn er sich ergäbe. Sie würden ihn nicht am Leben lassen, sagte er zum Verhandler, weil er zu viel wisse. Er allein wisse, was sie im Schilde führten, er kenne ihre heimtückischen Pläne, und darum würden sie ihn hinrichten.
Der Hurensohn ließ nicht mit sich reden. D’Agosta fror minütlich mehr und wurde immer ungeduldiger. Je länger das hier so weiterging, desto schlechter würde er als Einsatzleiter dastehen.
»Also gut«, sagte er. »Zieht den Verhandler zurück. Macht euch bereit, eine Blendgranate durchs Dach zu werfen und gleichzeitig durch die Tür und die Wand reinzugehen. Auf meinen Befehl hin. Ich komme hoch.«
Er wollte vor Ort sein, wollte das hier nicht aus der Ferne koordinieren. Er ging den Häuserblock entlang und betrat das schäbige Gebäude, vorbei an den Notfalleinheiten, der Diensthundestaffel, den schweren Lastwagen und dem gepanzerten Hubsteiger. Sie lieben wirklich ihr Spielzeug, dachte er mit einer gewissen Zuneigung, und holen es bei jeder sich bietenden Gelegenheit heraus.
Er stieg die Treppe in den dritten Stock hinauf, eine Etage unter dem Geschehen. Dort vergewisserte er sich, dass die vier Männer auf dem Dach sorgfältig und leise ein Loch bis hinunter zur Trockenwanddecke der Wohnung gebohrt hatten und dieses Loch so präpariert wurde, dass man es durchstoßen und eine Blendgranate dort hindurchwerfen konnte. Die beiden Spezialeinsatzkommandos im vierten Stock bestätigten, dass sie Stellung bezogen hatten und bereit waren, loszulegen.
»Okay«, sagte D’Agosta ins Funkgerät. »Kann losgehen.«
Kurz darauf hörte er das Krawumm der Blendgranate. Es folgte das doppelte Krachen, als die beiden Spezialeinsatzkommandos gleichzeitig durch die Tür und die Wand brachen und die Wohnung stürmten. Von innen ertönte ein Schuss, gefolgt von noch einem und noch einem – dann war es vorbei.
»Entwaffnet und festgenommen«, kam die Erfolgsmeldung über Funk.
D’Agosta rannte die Treppe hoch, zwei Stufen auf einmal nehmend, und betrat die Wohnung. Da war Lasher, auf dem Boden liegend, mit Handschellen gefesselt, zwei Cops über ihm, inmitten eines winzigen, zugemüllten und stinkenden Lochs von einer Wohnung. Er wurde hochgehoben, er wimmerte. Er war ungefähr eins zweiundsiebzig groß und hager, hatte Akne und einen Zauselbart. Er blutete stark aus der Schulter und auch aus dem Unterleib.
Das ist Lasher?
»Er hat auf uns geschossen, Sir«, sagte einer der Beamten, »wir haben das Feuer nur erwidert, um ihn kampfunfähig zu machen.«
»Gut.« D’Agosta trat einen Schritt zur Seite, als der Sanitäter hereinkam, um die Schusswunden zu behandeln.
»Ihr habt mich verletzt!«, plapperte Lasher, während D’Agosta sah, dass er sich nass pinkelte.
D’Agosta sah sich um. Poster mit Death-Metal-Gruppen an den Wänden, ein unordentlicher Stapel Waffen in einer Ecke, ein halbes Dutzend auseinandergebaute Rechner und haufenweise elektronische Geräte unbekannter Funktion. Die ganze Bude war komisch-absurd-furchterregend, so wie das Filmset eines Horrorfilms. Mit so merkwürdigen Verhältnissen hatte D’Agosta nicht gerechnet. Er blickte auf Lasher hinunter. Der Kerl zitterte am ganzen Leib, die Haare waren voller Gipsstaub, vor ihm auf dem vollgemüllten Fußboden bildete sich eine Blutlache – war das echt der Typ, der Cantucci gestalkt und mit derart skrupelloser Präzision umgebracht hatte? D’Agosta sah das einfach nicht. Andererseits aber war unbestreitbar, dass dieser kleine Arsch gerade eben einen Polizisten mit einer abgesägten Schrotflinte angeschossen und anschließend versucht hatte, noch ein paar weitere umzulegen.
»Das tut weh«, sagte Lasher mit leiserer Stimme, dann verlor er das Bewusstsein.
»Schafft ihn ins Bellevue.« Tief seufzend wandte sich D’Agosta ab. Sobald der Dreckskerl wieder in stabilem Zustand war, würde er ihn befragen – seine Verletzungen waren ernst, aber wohl nicht tödlich. Aber nicht mehr heute Abend. Er musste ein wenig Schlaf bekommen, und der Stapel an Papierkram wurde auch höher und höher.
Verflucht, er hatte rasende Kopfschmerzen.
24
Um fünf Uhr morgens am 24. Dezember, ungefähr eine Stunde vor Sonnenaufgang, erschien Special Agent Pendergast an der Tür der Wohnung 5B im Gebäude an der 355 West Fourteenth Street. Der einsame Beamte, der den Tatort bewachte – die Spurensicherung hatte ihre Arbeit bereits beendet –, döste auf seinem Stuhl neben der Tür vor sich hin.
»Es tut mir sehr leid, Sie zu belästigen«, fing Pendergast an, während der Mann aufsprang und das Mobiltelefon, das er in der Hand gehalten hatte, auf den Boden fiel.
»Entschuldigen, Sir, aber Sie dürfen –«
»Bitte«, sagte Pendergast besänftigend, zückte seinen FBI-Ausweis und ließ ihn aufklappen. »Bloß ein kurzer Blick – natürlich nur, wenn Sie nichts dagegen haben.«
»Nein«, sagte der Cop, »natürlich nicht, aber sind Sie denn befugt …?« Er schien enttäuscht zu sein, als Pendergast ernst den Kopf schüttelte.
»Um fünf Uhr morgens, mein guter Freund, ist es schwierig, eine Unterschrift zu bekommen. Wenn Sie aber meinen, Sie müssten Lieutenant D’Agosta anrufen, so habe ich dafür selbstverständlich volles Verständnis.«
»Nein, nein, das ist nicht nötig«, sagte der Beamte hastig. »Aber Sie sind doch befugt, in dem Fall zu ermitteln?«
»Natürlich.«
»Nun, dann darf ich Sie wohl durchlassen.«
»Guter Mann.« Pendergast schnitt das Tatortband von der Tür, erbrach das Siegel und betrat die Wohnung, schaltete das Licht an und schloss die Tür leise hinter sich. Er wollte nicht gestört werden.
Er leuchtete mit seiner Taschenlampe in dem erbärmlichen Zimmer herum, drehte sich dabei um die eigene Achse, nahm alles in Augenschein. Der Lichtkegel verharrte auf jedem Poster, bewegte sich dann zu der Ecke voller Waffen auf einem Stück schmutzigen Teppichs, dem Haufen aus Computergeräten, Leiterplatten und alten Kathodenstrahlröhren, die jetzt blutbespritzt waren. Pendergasts Blick wanderte zu einer schlichten Werkbank, zusammengenagelt aus Kiefernholz, die Oberfläche verkratzt und verbrannt. An der Wand dahinter hing Werkzeug. Sein Blick schweifte zum zerwühlten Bett, zur unerwartet sauberen Küchenzeile – und dann zurück zu der Stelle, wo er begonnen hatte.