Jetzt ging er zur Werkbank. Diese stand im Fokus seines Interesses. Er inspizierte sie von links nach rechts, besah sich die kleinste Kleinigkeit im Schein der Taschenlampe und hin und wieder auch mit der Lupe, wobei er von Zeit zu Zeit etwas mit einer Juwelierpinzette aufhob und in ein Teströhrchen steckte. Sein blasses, vom reflektierten Licht der Taschenlampe erhelltes Gesicht schwebte gleich einem körperlosen Geist durch den Raum, die silbrigen Augen funkelten in der Dunkelheit.
Eine Viertelstunde lang setzte er die Untersuchungen fort – bis er plötzlich stutzte. In der Ecke, dort, wo der billige Kieferntisch vor der Wand gestanden hatte, hatte der Lichtschein der Taschenlampe etwas erhellt, was wie große gelbliche Salzkörner aussah. Das erste davon hob er mit den Fingern auf, zerrieb es, betrachtete den weißlichen Staub auf der Fingerspitze, roch daran und schmeckte es schließlich mit der Zungenspitze. Das zweite hob er mit der Pinzette auf und ließ es in einen kleinen Ziplock-Beutel fallen, versiegelte diesen und steckte ihn zurück in die Jackentasche.
Pendergast drehte sich um und verließ die Wohnung. Der diensthabende Polizist, der stur und aufmerksam gewartet hatte, erhob sich von seinem Stuhl. Pendergast umfasste herzlich seine Hand. »Ich danke Ihnen, Officer, für Ihre Hilfe und Ihr Pflichtbewusstsein. Ich werde das bei meinen nächsten Zusammentreffen mit dem Lieutenant sicherlich erwähnen.«
Und damit stieg er so leise und behände wie eine Katze die Treppe hinunter.
25
Fast genau zwölf Stunden nachdem Pendergast Lashers Wohnung verlassen hatte, ging Bryce Harriman unruhig durch seine Zweizimmerwohnung an der Ecke 72. und Madison. Die Wohnung lag in einem umgewandelten Vorkriegsgebäude aus den Dreißigerjahren. Aufgrund der Umwandlung hatte sie einen bizarren Grundriss, der einen regelrechten Rundgang gestattete: vom Wohnzimmer durch die Küche zu der einen Tür des Badezimmers, aus der anderen Tür hinein ins Schlafzimmer und dann vom Schlafzimmer durch einen kurzen, von Schränken gesäumten Flur, der zurück zum Wohnzimmer führte.
Die Zimmer hatten hohe Decken, und das Gebäude verfügte über eine schicke Eingangshalle und einen 24-Stunden-Doorman, aber die Wohnung war mietpreisgebunden und lief unter dem Namen von Harrimans Tante. Wenn sie verstarb, was vermutlich ziemlich bald geschehen würde, würde er ausziehen und sich etwas suchen müssen, was seinem Gehalt eher entsprach. Nur ein weiteres Beispiel für das schwindende Vermögen der Familie Harriman.
Die Wohnung war in einem eklektischen Stil eingerichtet. Sie stand voll mit abgelegtem Mobiliar, das ihm ältere Verwandte vererbt hatten, die mittlerweile verstorben waren. Viele dieser Möbelstücke waren wertvoll, und alle waren alt. Das einzig Neue in der gesamten Wohnung, abgesehen von den Küchenarmaturen, war der Laptop, der auf einem Queen-Anne-Tisch aus brasilianischem Ahorn mit Cabriolbeinen stand – einst im Besitz von Großonkel Davidson, der nun auch schon seit zehn Jahren unter der Erde lag.
Harriman blieb kurz stehen und ging dann zum Tisch hinüber. Außer dem Laptop mit dem hellen Bildschirm sah man drei Stapel Papiere, einer für jeden Mord, die Seiten waren voll mit Notizen, Kritzeleien, Doodles, groben Skizzen und hin und wieder einem Fragezeichen. Einen Augenblick lang blätterte Harriman zerstreut in den Seiten, dann ging er wieder auf und ab.
Diese nagende berufliche Angst, die ihn nach seinem Coup, dem Interview mit Izolda Ozmian, befallen hatte, war erneut aufgetaucht. Er wusste, er wusste, was für tolle Storys diese Morde ergeben könnten – doch es bereitete ihm erhebliche Probleme, darüber zu schreiben. Eine Schwierigkeit lag darin, dass seine Informanten bei der Polizei nicht besonders ergiebig waren, außerdem waren sie nicht erpicht darauf, ihm zu helfen. Sein alter Erzrivale Smithback war ein Meister darin gewesen, sich bei Polizisten einzuschmeicheln, er hatte ihnen Drinks ausgegeben, ihnen Honig um den Bart geschmiert und ihnen Geschichten entlockt. Aber Harriman, auch wenn er es sich nur höchst ungern eingestand, hatte einfach nicht den Bogen raus. Möglicherweise lag das daran, dass er der weißen, angelsächsischen Oberschicht angehörte, an den Jahren am Choate- und am Dartmouth-College, daran, dass er zusammen mit dem Jachtklub-und-Cocktail-Set aufgewachsen war –, doch was auch immer der Grund sein mochte, er konnte sich einfach nicht entspannen in Gesellschaft von Polizisten, sprach einfach nicht ihre Sprache. Und das wussten sie. Folglich litten seine Artikel darunter.
Aber es gab da ein noch größeres Problem. Selbst wenn er mit sämtlichen Beamten der New Yorker Polizei auf Du und Du gewesen wäre, Harriman war sich nicht sicher, ob ihm das diesmal helfen würde. Denn offenbar hatten die Morde sie genauso verwirrt wie ihn. Es kursierte ein Dutzend verschiedener Theorien: ein Mörder, zwei Mörder, drei Mörder, ein Nachahmermörder, ein Einzelgängermörder, der so tat, als wäre er ein Nachahmungstäter. Die Theorie du jour lautete, die kleine Ozmian sei von einem Mörder umgebracht worden, dann später von irgendwem enthauptet, der dann weitergemacht und weitere »Nachahmermorde« begangen habe. Die Cops weigerten sich zu sagen, warum genau sie glaubten, dass der zweite und dritte Mord zusammenhingen. Aus dem, was Harriman ausgraben konnte, schien allerdings ziemlich deutlich hervorzugehen, dass der Modus Operandi in beiden Fällen ähnlich war.
Und so hatte er kurz nach seinem Interview mit Izolda Ozmian pflichtbewusst an alle Türen geklopft, war an allen Tatorten aufgetaucht und hatte die besten Storys geschrieben, die er hinbekam. Auf der Pressekonferenz vor zwei Tagen hatte er sich so sichtbar gemacht, wie es nur irgend möglich war, ohne ein Leuchtreklameschild in die Höhe zu halten. Doch er machte sich nichts vor: Mit Sichtbarkeit allein ließen sich keine Zeitungen verkaufen, und seine neuen Artikel enthielten zwar viele Anspielungen, aber kaum Fakten und Beweise.
Er machte noch zwei weitere Rundgänge durch die Wohnung und blieb dann wieder im Wohnzimmer stehen. Dort stand der Laptop, das Textverarbeitungsprogramm war geöffnet, der Cursor blinkte ihn an wie ein erhobener Mittelfinger. Er sah sich um. An drei Wänden des Zimmers hingen recht gute Ölgemälde, Aquarelle und Zeichnungen, die er geerbt hatte. Die vierte Wand war Fotos von Shannon, seiner verstorbenen Freundin, gewidmet, wie auch einigen Gedenktafeln sowie Auszeichnungen, die er für seine Artikel zugunsten der Krebsforschung erhalten hatte. Die auffälligste Tafel galt der Shannon-Croix-Stiftung. Er hatte in ihrem Namen einen Fonds aufgelegt, um Geld für medizinische Forschungen zum Thema Gebärmutterhalskrebs zu sammeln. Das hatte er mithilfe der Post bewerkstelligt, die von Zeit zu Zeit im Zusammenhang mit einer Artikelserie Wohltätigkeitsgalas veranstaltete. Die Stiftung hatte einigen Erfolg und mehrere Millionen Dollar eingesammelt. Harriman war Mitglied im Stiftungsrat. Er konnte zwar nichts tun, was Shannon wieder lebendig gemacht hätte, doch wenigstens konnte er sein Bestes geben, um dafür zu sorgen, dass ihr Tod nicht völlig umsonst gewesen war.
Seufzend setzte er sich zurück an den Tisch und blätterte noch einmal in den drei Stapeln. Die Mordserie war irre seltsam – drei Enthauptungen, alle in derselben Gegend, alle im Zeitraum von knapp zwei Wochen, doch es bestand kein klarer Zusammenhang zwischen ihnen. Da waren drei Leute mit unterschiedlicher Herkunft, aus unterschiedlichen sozialen Schichten, von unterschiedlichem Alter, mit unterschiedlichen Berufen und Neigungen. Unterschiedlich in jeder Hinsicht. Es war verrückt.
Wenn es doch nur eine Gemeinsamkeit gäbe. Das wäre schon was. Nicht drei Geschichten, sondern eine. Ein Riesenknüller. Wenn er doch nur den roten Faden in diesen Mordfällen finden könnte, in diesen drei Papierstapeln … Es könnte die größte Story seines Lebens werden.