Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück. Vielleicht sollte er noch einmal zu der Wohnung hinfahren und versuchen, noch ein paar mehr Informationen über den Schusswechsel von gestern Abend zu sammeln. Die Cops hatten ja echt die Kavallerie losgeschickt. Er wusste, es ging da um eine Person von Interesse im Mordfall Cantucci. Aber mehr hatte er nicht rauskriegen können.
Er glaubte einfach nicht an die komplizierten Theorien über Nachahmer und mehrere Mörder und sich widersprechende Motive. Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass es ein Mörder war. Und wenn das zutraf, dann mussten die Morde neben den Enthauptungen irgendetwas gemeinsam haben – ein gemeinsames Motiv. Aber welches? Schließlich handelte es sich um drei ekelhaft reiche Ärsche, die einander nie begegnet waren, und doch …
Plötzlich hielt er inne. Drei stinkreiche Ärsche. Konnte das die Lösung sein? Konnte das eventuell die Lösung sein?
Vielleicht war doch nicht alles an den drei Opfern unterschiedlich. Alles schien ganz einfach zu sein. So sauber. Drei reiche Ärsche, die es – in den Augen des Mörders – verdienten zu sterben. Je länger Harriman darüber nachdachte, desto mehr Sinn ergab es.
Mehr noch: Es war die einzige Theorie, die Sinn ergab.
Mit einem Mal überkam ihn diese kribbelnde Erregung, die er nur dann verspürte, wenn er etwas ganz Großem auf der Spur war.
Doch er musste aufpassen – sehr gut aufpassen. Es handelte sich um eine Theorie. Er wollte schließlich nicht erleben, dass sich Ähnliches wie vor ein paar Jahren wiederholte, mit seiner Story über diesen Van Menck, diesen verrückten alten Wissenschaftler, der New Yorks bevorstehende Zerstörung durch einen großen Brand vorhersagte. Mit diesem Artikel hatte er sich gehörig in die Nesseln gesetzt. Nein, wenn er hier tatsächlich irgendetwas auf der Spur war, dann musste er eine Theorie haben, die von soliden Recherchen, Fakten und Beweisen gestützt wurde.
Langsam und aufmerksam sah er erst den ersten Stapel durch, dann den zweiten, schließlich den dritten, während er gleichzeitig genau überlegte und nach Lücken in der Geschichte suchte. Da waren also drei Menschen mit offenkundig schlechtem Charakter. Diese Ozmian, das reiche Partygirl; Cantucci, Mafiaanwalt; Bogatschjow, Waffenhändler und ein komplettes Arschloch. Aber Grace Ozmian hütete, wie sich herausstellte, ein schreckliches Geheimnis. Und er würde wetten, dass auch in der Vergangenheit der anderen beiden etwas grotesk Böses schlummerte. Natürlich war das so. Das waren nicht nur ganz miese Ärsche, nein, jeder von ihnen musste etwas Furchtbares getan haben, so wie Grace Ozmian, die nie angemessen bestraft worden war – allein schon ihre Berufsfelder machten das fast unvermeidlich. Und je länger er darüber nachdachte, je länger er die Indizien unter die Lupe nahm, desto sicherer war er sich. Es war so einfach, so offensichtlich, dass es ihm die ganze Zeit mitten ins Gesicht gestarrt hatte.
Wieder begann er, in der Wohnung auf und ab zu gehen, jetzt aber anders: Er war aufgeregt, beseelt. Kein Mensch war dahintergekommen. Die Polizei hatte keine Ahnung. Doch je genauer er seine Entdeckung betrachtete, aus jedem erdenklichen Blickwinkel, desto sicherer … nein, desto überzeugter war er … dass er recht hatte.
Harriman ging zurück ins Wohnzimmer, setzte sich an den Queen-Anne-Tisch und zog den Laptop zu sich heran. Eine Minute lang saß er regungslos da und ordnete seine Gedanken. Und dann begann er zu tippen, langsam zunächst, dann schneller und schneller, die Tasten klapperten bis weit in die wolkenverhangene Nacht. Dies würde eine Weihnachtsgeschichte werden, die niemand so schnell vergessen würde.
26
Der Enthaupter enttarnt!
Leichen ohne Kopf – die Zusammenhänge
Bryce Harriman, New York Post – 25. Dezember
Seit fast zwei Wochen steht New York nun schon unter Schock. Ein Mörder geht um. Drei Menschen wurden von einem unbekannten Täter oder Tätern brutal ermordet, ihre Köpfe wurden entfernt und fortgeschafft. Sechs weitere Personen, Wachleute, die offenbar im Weg standen, wurden ebenfalls ermordet.
Das NYPD steht vor einem Rätsel. Und hat eingeräumt, dass man nicht weiß, ob es sich um einen Mörder, zwei oder sogar um drei handelt. Die Polizei hat bisher keinerlei Motiv für die Taten gefunden. Sie besitzt keine verlässlichen Spuren. Die Ermittler suchen verzweifelt nach einem Zusammenhang zwischen den Hauptopfern – irgendeinem Zusammenhang –, aber ohne Erfolg.
Doch handelt es sich hier nicht um ein klassisches Beispiel dafür, dass man den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht? Eine exklusive Prüfung der Beweise durch die Post hat einen Zusammenhang sowie genau jenes Motiv aufgedeckt, welches die Polizei sich erfolglos bemüht zu finden.
Die Analyse der Indizien durch die Post offenbart gewisse Fakten über die primären Opfer.
Opfer eins: Grace Ozmian, 23-jähriges Partygirl ohne ein größeres Bestreben im Leben, als Daddys Geld auszugeben, dem Konsum illegaler Drogen und einem parasitären Lebensstil zu frönen, wenn sie nicht gerade vor Gericht steht, das ihr einen Klaps aufs Handgelenk versetzte, nachdem sie in alkoholisiertem Zustand einen achtjährigen Jungen totgefahren hatte.
Opfer zwei: Marc Cantucci, 65, erst Generalbundesstaatsanwalt, dann Mafiaanwalt, der Millionen gescheffelt hat, indem er die berüchtigtsten Verbrecherbosse von New Jersey schützte, ein Mann, der alle Untersuchungen von Geschworenengerichten in seine Aktivitäten, die von Veruntreuung und Erpressung bis hin zu organisiertem Mord reichen, unbeschadet überstanden hat.
Opfer drei: Viktor Bogatschjow, russischer Oligarch, 51, der sein Vermögen angehäuft hat, indem er Bestandteile ausrangierter Nuklearwaffen über China vermittelte, anschließend seine Heimat verließ und sich in einem riesigen Anwesen in den Hamptons niederließ, wo er sich prompt in Gerichtsprozesse verstrickte, weil er seine Steuern nicht bezahlte, seinen Angestellten ihr Gehalt schuldig blieb und sich rücksichtslos über städtische Verordnungen hinwegsetzte.
Kann irgendjemand diese drei »Opfer« betrachten und behaupten, dass zwischen ihnen kein Zusammenhang besteht? Die Analyse der Post weist die offensichtliche Gemeinsamkeit nach: Allen drei Personen fehlt es vollkommen an menschlichem Anstand.
Diese drei »Opfer« sind übermäßig reich, schamlos korrupt und moralisch völlig verkommen. Man muss kein Experte in Profiling sein, um den roten Faden zu finden, der sie verbindet: Sie haben keine rettende Eigenschaft. Es würde besser in der Welt aussehen, wenn sie tot wären. Sie verkörpern das Schlechteste an den Ultrareichen.
Worin liegen die Beweggründe, diese drei Menschen zu ermorden? Das erscheint mittlerweile offensichtlich. Diese Morde können durchaus das Werk einer Person sein, welche die Rolle des Richters, Geschworenen und Henkers in sich vereinigt, ein Mörder, der mit Sicherheit geistesgestört ist, vielleicht auch ein religiöser oder moralischer Fanatiker, der seine Opfer genau deshalb auswählt, weil sie die verderbtesten und ausschweifendsten Aspekte unserer heutigen Gesellschaft verkörpern. Und wo findet man solche Ikonen des Übermaßes eher als unter den Einprozentern in New York City? Und wie ließe sich besser Rache üben, ganz buchstäblich, als wenn man New York in die Stadt der ›Endlosen Nacht‹ verwandelte?
Zwar wurden die drei Opfer auf unterschiedliche Weise ermordet, doch alle wurden anschließend enthauptet. Enthauptung ist die älteste und reinste aller Strafen. Der Enthaupter erschlägt seine Opfer mit dem Schwert der Rechtschaffenheit, der Sense des Zorns Gottes und schickt ihre Seele in die ewige Verdammnis.