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Baldwin Day zog die externe Festplatte mit fünf Terabyte Kapazität aus seinem Desktopcomputer und steckte sie für die kurze Fahrt in die oberste Etage des Seaside-Financial Center-Gebäudes nahe dem Battery Park in seine Aktentasche. Diese Fahrt machte er einmal täglich; auf ihr führte er jene Daten mit sich, die das Unternehmen, LFX Financial, auf dem Highway des Profits und noch mehr Profits entlangrasen ließ. Auf der Festplatte befanden sich die Namen und persönlichen Daten der Zigtausenden von Menschen, welche die Recherchen seines Daten-Marketing-Teams als potenzielle Kontaktpersonen beziehungsweise »Colonels« ausgegraben hatten, wie man diese Leute im Labyrinth des Callcenters nannte, das drei Stockwerke des Seaside-Komplexes einnahm. Bei diesen Kontaktpersonen handelte es sich überwiegend um pensionierte Kriegsveteranen und die Ehefrauen von Soldaten im aktiven Dienst. Am kostbarsten von allen »Colonels« waren die Witwen von Veteranen, die Häuser mit abbezahlten Hypotheken besaßen. Jeden Tag um Punkt 16 Uhr lieferte Day seine Festplatte im Büro des Vorstands im obersten Stock ab, wo das Gründerpaar des Unternehmens, Gwen und Rod Burch, seine Büros hatte. Die Burches gingen dann die Listen mit den Kontaktpersonen durch, wobei sie einen untrüglichen Riecher hatten, die geeignetsten aus der Riesenmenge an Daten herauszufiltern. Anschließend reichten sie die redigierten und mit Anmerkungen versehenen Listen an die Drückerkolonnen von LFX Financial weiter, die sich daraufhin an die Arbeit machten und Tausende »Colonels« anriefen und versuchten, sie als »Kunden« zu gewinnen, auch wenn das angemessenere Wort, wie Day fand, vermutlich Deppen war. Jeder Drücker musste mindestens acht Kunden pro Tag, vierzig pro Woche werben, oder er wurde gefeuert.
Fast im selben Augenblick, als Day hinter das Geschäftsmodell des Unternehmens gekommen war, hatte er sich nach einer anderen Stelle umgesehen. Er wollte auf Teufel komm raus weg von LFX, nicht weil er unterbezahlt oder überarbeitet wäre – in dieser Hinsicht konnte er nicht klagen –, sondern wegen der Art von Abzocke, die man dort betrieb. Als er bei LFX als Teamleiter in der hochtrabend genannten Abteilung für Analytik arbeitete und ihm klar wurde, was sich dort abspielte, war er entsetzt. Es gehörte sich einfach nicht.
Natürlich bestand darüber hinaus immer auch die Gefahr, dass die Behörden ein deutlicheres Interesse an den Betrügereien bei LFX zeigten. Denn schließlich waren es die Burches, für die er arbeitete.
Derlei Gedanken gingen ihm durch den Kopf, als er den überfüllten Aufzug betrat, seine Security-Karte gegen das Lesegerät hielt und den Knopf für die oberste Etage drückte. Seit ein entlassener Soldat, der unter einem schweren Hirnschaden litt, der von einer Tretmine im Irak verursacht worden war, mit einer Handfeuerwaffe in die Lobby gestürmt war und drei Personen angeschossen und verletzt hatte, ehe er sich selbst richtete, war die Security superstreng in dem Unternehmen. Der Name des Soldaten hatte auf einer dieser Listen gestanden, die Day ungefähr ein Vierteljahr vor dem Vorfall nach oben geschickt hatte. So lange dauerte es nämlich, bis LFX dem Mann das Haus weggenommen hatte – drei kurze Monate. Nach den Schüssen änderte sich hinsichtlich der Praktiken und Anreizmodelle bei LFX gar nichts, nur dass ein fanatisches Sicherheitssystem implementiert wurde und ein Gefühl von Paranoia in der Luft lag. Ein Teil dieses Sicherheitssystems bestand in der Isolierung und Abschirmung der Computernetzwerke, was auch der Grund dafür war, warum Day die Daten jetzt auf die altmodische Weise in die Vorstandsetage übermitteln musste: indem er sie persönlich hinaufbrachte.
Die Aufzugtüren öffneten sich zu der vornehmen Lobby im obersten Stock des Seaside-Gebäudes. Die Burches legten Wert auf übertriebene Opulenz. Wandvertäfelungen aus dunklen Edelhölzern, Goldblatt, Pseudomarmor, dicke Teppiche und falsche alte Meister an den Wänden. Day durchquerte die Lobby, nickte den Empfangsdamen zu und tippte mit seiner Karte gegen das Lesegerät neben der Tür. Auf die Eingabeaufforderung hin drückte er den Finger auf einen Fingerabdruck-Scanner, die Holztür schwang auf, die Vorstandsetage kam zum Vorschein. Überall das geschäftige Kommen und Gehen von Sekretärinnen und Assistentinnen. Jetzt war die hektischste Zeit bei LFX Financial, denn gerade kamen die Verträge herein, die die Drückerkolonnen abgeschlossen hatten.
Lächelnd nickte Day den verschiedenen Sekretärinnen und Assistentinnen zu, denen er auf seinem Weg zum Büro der Burches begegnete.
Unmittelbar vor der Tür meldete er sich bei Iris an, der Direktionssekretärin. Iris war ein zäher alter Vogel, nüchtern und sachlich, aber »eine Seele von Mensch«, wie man so sagte. Jeder, der es überlebte, so eng mit den Burches zusammenzuarbeiten, musste ebenso kompetent wie hart im Nehmen sein.
»Ich glaube, die Burches sind in einer Besprechung«, erklärte sie. »Zumindest ist Roland vor ein paar Minuten herausgekommen.«
»Sie wissen ja, ich muss das hier persönlich abgeben.«
»Ich warne Sie nur, mehr nicht.« Sie sah ihn über den Rand ihrer Brille an und schenkte ihm ein kurzes Lächeln.
»Danke, Iris.«
Er ging auf dem dicken Teppichboden zu der zweiflügeligen Tür, die ins Allerheiligste führte, und legte die Hand auf den kalten Kupferknauf. In diesem Augenblick, unmittelbar vor dem Eintreten, spürte er jedes Mal einen Anflug von Angst. Dahinter lag eine vergoldete Monstrosität von einem Zimmer, überall Gold und Schwarz, in dem zwei wahrhaft fürchterliche Trolle hausten. Neun von zehn Malen hoben sie zwar nicht einmal den Kopf, wenn er die Festplatte ablieferte, ließen dafür aber hin und wieder wie nebenbei eine abfällige Bemerkung fallen. Ein paarmal hatten sie ihn wegen irgendeines angeblichen Verstoßes abgekanzelt.
Gerade als er den Türknauf drehen wollte, merkte er, dass die Tür abgesperrt war. Das war ungewöhnlich.
»Iris?« Er drehte sich um. »Die Tür ist abgeschlossen.«
Die Sekretärin beugte sich über die Gegensprechanlage auf ihrem Schreibtisch und drückte einen Knopf. »Mr. Burch? Mr. Day ist hier, um die Daten abzugeben.«
Sie wartete, aber sie bekam keine Antwort.
»Mr. und Mrs. Burch?«, fragte sie noch einmal.
Noch immer keine Antwort.
»Vielleicht ist ja das System defekt.« Sie erhob sich, ging mit raschen Schritten zur Tür und klopfte zweimal kurz hintereinander laut an.
Warten.
Noch ein doppeltes Klopfen, zweimal kurz hintereinander.
Wieder Warten.
»Merkwürdig. Ich weiß doch, dass sie dort drin sind.« Sie rüttelte erneut am Türgriff. Dann nahm sie die elektronische Karte, die ihr vom Hals baumelte, hielt sie vor das Lesegerät und drückte die Tür auf.
Klickend öffnete sie sich.
Day betrat hinter Iris das riesige, mit vulgärem Geschmack eingerichtete Zimmer. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte er, der Raum sei neu eingerichtet worden und man hätte ihn rot gestrichen. Dann aber wurde ihm klar, dass er auf Blut starrte, mehr Blut, als er je im Leben gesehen hatte, mehr Blut, als sich, wie er glaubte, in den beiden Leichen ohne Kopf befinden konnte, die dort vor ihm auf dem blutgetränkten Teppich lagen.
Day hörte ein Seufzen und drehte sich gerade noch rechtzeitig um, um zu sehen, wie Iris zu Boden sank. Er zog sie zurück aus dem Zimmer, wobei seine Schuhe auf dem nassen Teppich glitschten. Die Tür schloss automatisch hinter ihm, und er legte Iris auf ein Sofa im Empfangsraum, worauf alle Anwesenden im Vorzimmerbereich mit jäher Bestürzung reagierten. Dann suchte er für sich selbst eine Sitzgelegenheit, nahm darauf Platz und legte den Kopf in seine zitternden Hände.
»Was ist los?«, fragte eine Sekretärin in schroffem Tonfall. »Was ist denn passiert?«
Day war nicht klar genug im Kopf, um darauf antworten zu können. Aber es war offensichtlich, was geschehen war.