»Was ist denn passiert?«, fragte sie noch einmal, während er sich bemühte, wenigstens so weit einen klaren Kopf zu bekommen, dass er ihr antworten konnte. Mehrere Personen in der Nähe versammelten sich, andere näherten sich zögernd der geschlossenen Tür zum Chefbüro.
»Um Gottes willen, nun sagen Sie doch endlich, was passiert ist!«
Andere im Raum eilten zur Tür zum Vorstandsbüro und versuchten, sie zu öffnen, doch die Tür hatte sich automatisch verriegelt, als sie ins Schloss fiel.
»Rache«, brachte Day mühselig hervor. »Hier hat jemand Rache geübt.«
32
Am Eingang zur obersten Etage, direkt neben dem Aufzug, hatten die Kriminaltechniker einen Ankleidebereich eingerichtet, mit Gestellen voll mit weißen Schutzanzügen und -masken, Handschuhen und Überschuhen. Lieutenant D’Agosta trug das komplette Outfit, Pendergast desgleichen. D’Agosta fand, dass der Agent in dem Aufzug nicht gut aussah, gar nicht gut. In Verbindung mit seiner blassen Gesichtsfarbe und der hageren Figur wirkte der weite weiße Overall eher wie ein Totenhemd.
An dem provisorischen Eingang, wo Sergeant Curry bereits komplett angezogen auf sie wartete, trugen sie sich in eine Liste ein. Die gesamte Etage war als Tatort abgesperrt, und die Forensiker befanden sich im vollen Sammlermodus, viele hockten auf Händen und Knien und nahmen, mit Pinzetten und Proberöhrchen und Ziplock-Beweismittelbeuteln ausgestattet, alles genauestens unter die Lupe. Sobald er sich angezogen hatte, hielt D’Agosta inne und beobachtete die Leute bei der Arbeit. Sie machten ihre Sache gut, verdammt gut. Jetzt, wo er und das FBI vor Ort waren, zeigten natürlich alle, was sie konnten, aber die Leute hier waren das Beste, was das NYPD zu bieten hatte, wobei sie ihre Professionalität auch für alle deutlich zur Schau stellten. Er betete, dass sie etwas Hieb- und Stichfestes fanden, mit dem er zum Bürgermeister gehen konnte, und zwar schnell. Wenn sein Team keine echten Fortschritte erzielte, würde man ihm den Fall wegen dieses neuen Doppelmordes vermutlich entziehen. Doch mit etwas Glück würden er und Pendergast von den beiden Angestellten, die die Leiche entdeckt hatten, etwas Wichtiges erfahren.
D’Agosta schaute sich um und sagte: »Das hier ist ein irrer Tatort für einen Mord.«
Pendergast legte den Kopf leicht schief. »Vielleicht handelt es sich streng genommen ja gar nicht um einen Mord.«
D’Agosta ließ das durchgehen, wie so viele der kryptischen Bemerkungen Pendergasts.
»Wollen Sie sich die gesamte Etage ansehen oder nur den Ort, wo die beiden ermordet wurden?«, fragte Curry.
D’Agosta blickte Pendergast an, der ziemlich gleichgültig wirkte. »Wie Sie wünschen, Vincent.«
»Wir sehen uns nur mal kurz den Tatort an«, sagte D’Agosta zu Curry.
»Ja, Sir.« Curry ging ihnen voran durch den Empfangsbereich. Der Raum verströmte die gedämpfte Atmosphäre eines Krankenzimmers oder einer Palliativstation und roch intensiv nach forensischen Chemikalien.
»Ich sehe hier überall Überwachungskameras«, sagte D’Agosta. »Waren die deaktiviert?«
»Nein«, sagte Curry. »Wir laden gerade das Videomaterial von den Datenfestplatten herunter. Aber es sieht so aus, als wäre alles drauf.«
»Haben die Kameras das Kommen und Gehen des Mörders aufgezeichnet?«
»Das wissen wir, sobald wir einen Blick darauf geworfen haben. Wenn Sie wollen, gehen wir hinterher runter ins Büro der Security.«
»Ich will es.« Er fügte hinzu: »Ich frage mich, wie der Täter es hinbekommen hat, mit zwei Köpfen unterm Arm hier rauszuspazieren.«
Am anderen Ende der Vorzimmer entdeckte D’Agosta einen Mann, ebenfalls im Spurensicherungsanzug, der mit einem Mobiltelefon in einem Ziplock-Beutel Fotos machte. Er war eindeutig kein Polizist oder Tatortermittler und war ein wenig blass um die Nase. »Wer ist der Mann?«
»Ist von der Börsenaufsicht«, sagte Curry.
»Der Börsenaufsicht? Wozu? Und wie ist er hier überhaupt reingekommen?«
Curry zuckte mit den Schultern.
»Holen Sie ihn mal her.«
Curry ging los und kam mit dem Mann zurück. Er war groß, dick und kahlköpfig und trug eine Hornbrille sowie einen grauen Anzug unter seinem Overall. Er schwitzte recht stark.
»Ich bin Lieutenant D’Agosta«, sagte er. »Commander der Detective Squad, und das hier ist Special Agent Pendergast, FBI.«
»Supervising Agent Meldrum, Securities and Exchange Commission, Division of Enforcement. Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.« Er streckte seine Hand aus.
»Tut mir leid, kein Händeschütteln am Tatort«, sagte D’Agosta. »Sie verstehen – DNA-Partikel könnten übertragen werden.«
»Richtig, das wurde mir auch gesagt, entschuldigen Sie.« Der Mann zog verlegen die Hand zurück.
»Darf ich Sie mal etwas fragen«, sagte D’Agosta. »Warum interessiert sich die Börsenaufsicht für diese Sache, und wer hat Ihnen die Erlaubnis erteilt, sich am Tatort aufzuhalten?«
»Die Autorisierung kommt vom Büro des Generalstaatsanwalts, südlicher Distrikt. Wir sind schon ziemlich lange hinter den beiden her.«
»Tatsächlich?«, fragte D’Agosta. »Was haben die denn verbrochen?«
»Viel.«
»Wenn wir die Begehung hier beendet haben«, sagte D’Agosta, »und diese verfluchten Anzüge los sind, möchte ich, dass Sie uns über Ihre Erkenntnisse informieren.«
»Gerne.«
Sie gingen über die offene Fläche zu zwei kunstvoll verzierten Holztüren, die mit einem Keil offen gehalten wurden. Licht strömte aus dem Inneren des Chefbüros. Die vorherrschende Farbe, die D’Agosta dahinter erkennen konnte, war tiefes Karmesinrot. Mehrere Leute von der Spurensicherung befanden sich in dem Zimmer und gingen äußerst behutsam auf Matten, die auf dem blutdurchtränkten Teppich ausgelegt waren.
»O verflucht. Hat der Täter die Leichen in dieser Lage zurückgelassen?«
»Sie wurden nicht bewegt, Sir.«
Die beiden Leichname lagen ausgestreckt auf dem Boden, Seite an Seite, die Arme über der Brust gefaltet, sorgfältig arrangiert vom Mörder oder den Mördern. Im Licht der Scheinwerfer, die das Spurensicherungsteam aufgestellt hatte, sah das Ganze irgendwie unecht aus, wie ein Filmset. Doch der Geruch nach Blut war echt, eine Mischung aus feuchtem Eisen und Fleisch, das zu gammeln begann. Zwar war der Anblick schon furchtbar genug, doch an den Geruch würde sich D’Agosta nie gewöhnen können. Niemals. Als ihm speiübel wurde, strengte er sich an, die jähen Krämpfe seiner Magenmuskulatur zu unterdrücken. Das Blut war überall. Es war irre. Wo steckte der Typ, der die Blutspritzer untersuchte? Ah, da war er ja.
»He, Martinelli? Haben Sie mal eine Sekunde Zeit?«
Martinelli erhob sich und kam rüber.
»Was hat es mit dem Blut auf sich? Soll das eine Art Action Painting sein?«
»Ich muss noch jede Menge Analysen machen.«
»Ihre erste Einschätzung?«
»Na ja, anscheinend wurden beide Opfer im Stehen enthauptet.«
»Woran erkennen Sie das?«
»Am Blut an der Zimmerdecke. Die ist fast fünf Meter hoch. Das Blut ist senkrecht nach oben gespritzt, arterieller Blutstrahl. Damit er diese Höhe erreicht, müssen Herzschlag und Blutdruck der Opfer ungeheuer hoch gewesen sein.«
»Was würde das verursachen? Den hohen Blutdruck, meine ich.«
»Ich würde sagen, die beiden hier haben geahnt, was kommt, wenigstens in den letzten Augenblicken. Sie mussten sich hinstellen und gewusst haben, dass sie gleich enthauptet würden. Das hat eine extreme Angst hervorgerufen, die zu Spitzenwerten sowohl des Blutdrucks als auch des Herzschlags geführt hat. Noch mal, das ist nur mein erster Eindruck.«
D’Agosta versuchte, die ganze Situation vollständig zu erfassen. »Mit was wurden die Köpfe abgeschlagen?«
Martinelli nickte. »Gleich da drüben.«
Als D’Agosta sich umwandte, sah er das Tatwerkzeug: irgendeine Art mittelalterlicher Waffe, auf dem Boden liegend, die Klinge komplett mit Blut überzogen.
»So etwas nennt man eine Bartaxt. Wurde von Wikingern verwendet. Natürlich eine Kopie. Rasiermesserscharf.«