»Was gibt es an einem Mord denn noch außer dem Wer, Warum und Wie?«
»Mein lieber Vincent, es gibt noch das Wo.«
33
Der Toningenieur klippte das Lavalier-Mikrofon an Harrimans Hemd, richtete es und zog sich dann auf seine Position zurück. »Sprechen Sie bitte ein paar Worte«, rief er herüber. »Mit normaler Stimme.«
»Hier ist Bryce Harriman«, sagte Harriman. »Lass uns nun gehen, du und ich, wenn der Abend ausgebreitet gegen den Himmel ist …«
»Prima, wir haben gute Ausschläge.« Der Toningenieur gab dem Produzenten das Okay-Zeichen.
Harriman schaute sich auf der Studiobühne um. Fernsehstudios amüsierten ihn jedes Mal aufs Neue. Zehn Prozent davon waren so eingerichtet, dass das Ganze wie ein Wohnzimmer aussah oder wie der Schreibtisch eines Fernsehmoderators, doch im restlichen Raum herrschte stets ein Riesenchaos: Betonboden und Hängelampen und Greenscreen-Leinwände, Kameras und Kabelrollen und Leute, die herumstanden und zusahen.
Es war die dritte Sendung in dieser Woche, in der Harriman auftrat, und jede hatte ein größeres Publikum als die vorherige. Es war wie ein Barometer für den Erfolg seines Artikels und des Folgeartikels. Als Erster war der lokale New-York-Sender auf ihn zugekommen und hatte ihm ein zweiminütiges Interview eingeräumt – aufgezeichnet, nicht live. Als Nächstes war er in The Melissa Mason Show aufgetreten, eine der beliebtesten Talkshows in der Dreistaatenregion. Dann aber war die Eilmeldung über den Doppelmord gekommen – ein Doppelmord, der auf seine Voraussagen haargenau passte. Und jetzt erschien er als Gast am großen Lagerfeuer: Americas’s Morning with Kathee Durant, eine der größten landesweiten Fernseh-Morningshows im ganzen Land. Und da war Kathee selbst, sie saß nur einen halben Meter von ihm entfernt und ließ sich in dieser Werbepause das Gesicht nachschminken. Das Studio sollte an eine Frühstücksnische erinnern: Gemälde, amerikanische Ureinwohner darstellend, an den Kulissenwänden zwei Sessel mit Klöppeldeckchen einander gegenüberstehend, dazwischen ein großer Bildschirm.
»Zehn Sekunden«, sagte jemand aus den schummrigen Tiefen der Bühne. Die Visagistin eilte davon, und Kathee wandte sich zu Harriman um. »Schön, dass Sie bei uns sind«, sagte sie und ließ ihr Millionen-Dollar-Lächeln aufblitzen. »Das ist ja eine so furchtbare Geschichte. Ich meine, eine so furchterregende.«
»Danke.« Harriman erwiderte ihr Lächeln. Auf einem digitalen Bildschirm sah er eine Ziffer erscheinen, dann leuchtete an einer der drei auf ihn gerichteten Kameras ein rotes Lämpchen auf.
Kathee strahlte in die Kamera. »Heute Morgen haben wir das Glück, Bryce Harriman bei uns zu haben, den Reporter der Post, der – wie die Leute sagen – das getan hat, was dem NYPD nicht gelungen ist: Die Motive des Mörders aufzudecken, der auf den Namen ›der Enthaupter‹ getauft wurde. Und nach dem jüngsten Doppelmord – der genau zu Mr. Harrimans Theorie passt, die er erstmals in einem Artikel beschrieben hat, den er am ersten Weihnachtstag veröffentlichte – hat die Geschichte offenbar wirklich einen Nerv getroffen. Prominente, Millionäre, Rockstars, ja sogar Mafiabosse flüchten aus der Stadt.«
Während sie sprach, zeigte der zwischen ihnen stehende Bildschirm – auf dem das Logo von America’s Morning zu sehen gewesen war – kurze Einspielungen mit Menschen, die in Limousinen stiegen, Privatflugzeuge, die auf Startbahnen rollten, bekannte Gesichter, die an Paparazzi vorbeieilten, umgeben von Entouragen von Sicherheitsleuten. Die Einspielungen waren Bryce bekannt. Er hatte sie alle schon einmal gesehen. Auch hatte er das alles ja persönlich erlebt. Leute, mächtige Leute, verließen Manhattan wie die Ratten das sinkende Schiff. Und das alles seinetwegen. Gleichzeitig schaute die Öffentlichkeit mit perversem Nervenkitzel zu, wie sich die ganze Sache entwickelte, um endlich zu erleben, dass die Einprozenter ihre Quittung bekamen.
Kathee drehte sich zu ihm um. »Bryce, herzlich willkommen bei America’s Morning. Danke, dass Sie gekommen sind.«
»Danke für die Einladung, Kathee«, sagte Harriman. Er setzte sich etwas anders hin, zeigte der Kamera seine Schokoladenseite.
»Bryce, Ihr Artikel ist Stadtgespräch. Wie sind Sie eigentlich dahintergekommen, was der New Yorker Polizei seit, wie es scheint, Wochen entgangen ist?«
Harriman verspürte ein Kribbeln, als er sich an Petowskis Worte erinnerte: Reporter suchen ihr ganzes Leben nach einer derartigen Geschichte. »Oh, die Anerkennung gebührt nicht mir allein«, sagte er mit falscher Bescheidenheit. »Im Ernst, ich habe nur auf den Vorarbeiten aufgebaut, die die Polizei bereits geleistet hat.«
»Aber was war, wie soll ich mich ausdrücken, sozusagen der Glühbirnen-Moment?« Mit ihrer Stupsnase und den blonden Haaren sah sie aus wie Barbie.
»Nun, es kursierten in jener Zeit jede Menge Theorien in der Stadt, wie Sie sich erinnern werden«, sagte Bryce. »Nur habe ich eben der Idee, dass mehr als ein Mörder am Werk ist, keinen Glauben geschenkt. Sobald mir das aufgegangen war, war es naheliegend, sich die Frage zu stellen, was die Opfer gemeinsam hatten.«
Kathee blickte zum Teleprompter, auf dem Zeilen aus Harrimans Artikel herunterscrollten. »Sie sagten, dass es allen Opfern ›an menschlichem Anstand‹ fehle. Dass ›es auf der Welt besser aussehen würde, wenn diese Menschen tot wären‹.«
Harriman nickte.
»Und dass man ihnen den Kopf abgeschnitten hat, ist, glauben Sie, eine symbolische Geste?«
»Ganz recht.«
»Aber ich meine, köpfen … könnte das nicht das Werk von Dschihadisten sein?«
»Nein. Das passt nicht ins Muster. Es handelt sich hier um das Werk eines Einzeltäters, der seine Opfer aus ganz eigenen Motiven tötet. Zugegeben, eine Enthauptung stellt eine uralte Bestrafung dar, eine Offenbarung des Zorns Gottes wegen der Sündhaftigkeit und moralischen Verderbtheit, die in der heutigen Gesellschaft immer mehr um sich greifen. Selbst der Begriff capital punishment, Todesstrafe, kommt von caput, dem lateinischen Wort für Kopf. Aber dieser Mörder predigt, Kathee, er warnt New York und im weiteren Sinne das ganze Land, dass Habgier, Selbstsucht und krasser Materialismus nicht mehr geduldet werden. Er nimmt die räuberischsten der Einprozenter ins Visier, die in den vergangenen Jahren offenkundig unsere Stadt übernommen haben.«
Kathee nickte heftig. Ihre Augen glänzten. Sie nahm jeden seiner Sätze begierig auf. Da wurde Bryce etwas klar: Mit dieser einen Geschichte war er zum Star geworden. Er hatte die Mordserie mit der größten Publicity seit vielen Jahren und im Alleingang aufgedeckt, und das war ganz allein sein Erfolg. Seine Folgeartikel, sorgfältig formuliert, um maximales Aufsehen zu erregen und sein Image aufzupolieren, das waren nur die Sahnehäubchen. Ganz New York hing ihm an den Lippen. Die Leute wollten, brauchten es, dass er ihnen den Enthaupter erklärte.
Dazu war er nur allzu gern bereit. Dieses Interview stellte die goldene Gelegenheit dar, das Feuer anzufachen – und das hatte er auch vor.
»Aber was genau predigt der Täter?«, fragte Kathee. »Und zu wem predigt er?«
Bryce zupfte wichtigtuerisch an seiner Krawatte, wobei er darauf achtgab, das Mikrofon nicht zu berühren. »Das ist ganz einfach, wirklich. Schauen Sie doch, was aus unserer Stadt geworden ist: der gewissenlose Reichtum, der aus Übersee hereinströmt, die 150-Millionen-Dollar-Wohnungen, die Milliardäre, die sich in ihren goldenen Palästen einmauern. New York City war früher einmal ein Ort, an dem alle, Reiche wie Arme, zusammenkamen und sich gut miteinander vertrugen. Jetzt haben die Superreichen unsere Stadt übernommen und trampeln auf uns anderen herum. Ich glaube, die Botschaft des Killers an die New Yorker lautet: Ändert euer Leben.« Diesen letzten Worten verlieh er einen ahnungsvollen Unterton.