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D’Agosta beobachtete Hradsky bei der Arbeit – und da war der Mann, er kam um 15.42 durch die Tür. Sie sahen, wie er die Drehtür betrat, schnurstracks zum elektronisch gesicherten Eingang ging und seine Security-Karte durchwischte, worauf sich die Schranke prompt öffnete.

»Wie lautet die Zeitmarke, als er seine Karte durchgewischt hat?«, fragte Pendergast.

»15:43:02«, sagte Hradsky.

»Bitte überprüfen Sie Ihre Sicherheitsprotokolle, die zeigen, wer sich exakt in diesem Augenblick eingetragen hat.«

»Gerne. Gute Idee.« Hradsky tippte, dann sah er stirnrunzelnd auf seinen Bildschirm. Er starrte sehr lange darauf, mit geschürzten Lippen. Er versuchte es noch einmal.

»Nun?«, fragte D’Agosta. »Wer war es?«

»Niemand. Niemand hat sich zu dem Zeitpunkt eingetragen.«

In diesem Moment erschien Curry, nachdem er mehrere Telefonate getätigt hatte, aus der gegenüberliegenden Ecke.

»Lieutenant?«

»Ja, was ist denn?«

»Roland McMurphy hat den ganzen Tag im Krankenhaus gelegen, er hat sich dort einen Kolostomiebeutel einsetzen lassen.«

Sie traten aus der Lobby auf den Platz vor dem Seaside Financial Building, wo sich eine lärmende Menschenmenge versammelt hatte. Die Leute skandierten Parolen und schwenkten Protestplakate.

»Bitte nicht noch eine Demo«, sagte D’Agosta. »Was wollen die denn jetzt schon wieder?«

»Keine Ahnung«, sagte Curry.

Während D’Agosta den Blick über die wütende Menschenmenge schweifen ließ, um festzustellen, wo man da hindurchkommen konnte, ging ihm langsam auf, was hier geschah. Hier demonstrierten zwei unterschiedliche Gruppen. Die Leute der einen Gruppe schwenkten Plakate und riefen Protestsprüche wie Nieder mit den Einprozentern! und Köpft die Heuschrecken!. Hierbei handelte sich eher um das junge, ungepflegte Ende des Spektrums, ziemlich ähnlich den Leuten, an die sich D’Agosta aus den Occupy-Wall-Street-Protesten von vor ein paar Jahren erinnerte. Die Leute in der anderen Gruppe sahen ganz anders aus. Viele von ihnen waren zwar ebenfalls jung, trugen aber Mäntel und Krawatten und wirkten eher wie Mormonen-Missionare und weniger wie Linksradikale. Sie riefen gar nichts, trugen lediglich schweigend Plakate mit diversen Sprüchen wie beispielsweise WER BESITZT DICH? … WILLKOMMEN IM FEGEFEUER DER EITELKEITEN … DIE BESTEN DINGE IM LEBEN SIND NICHT »DINGE« … KONSUM IST EINE TÖDLICHE KRANKHEIT.

Obwohl beide Seiten sich offenbar darin einig waren, was die Übel des Geldes betraf, gab es auch lauthals gerufene Beleidigungen und Rangeleien, dort, wo sich die beiden Gruppen zusammendrängten, als immer mehr Leute aus verschiedenen Seitenstraßen auftauchten und sich der Demonstration anschlossen. Während D’Agosta zuschaute, sah er einen Mann, bei dem es sich offenbar um den Anführer der ruhigeren Gruppe handelte – ein schlanker, grauhaariger Mann, der einen schmutzigen Mantel über etwas trug, das wie eine Mönchskutte aussah. Er hielt ein Plakat in die Höhe, auf dem stand:

EITELKEITEN

Unter dem Wort züngelten krude gemalte Flammen.

»Hey, sehen Sie den Typen da? Was halten Sie von dem?«

Pendergast blickte hin. »Ein ehemaliger Jesuit, der fadenscheinigen Soutane unter dem Mantel nach zu urteilen. Und das Plakat ist ganz offensichtlich eine Anspielung auf Savonarolas ›Fegefeuer der Eitelkeiten‹. Eine recht interessante Wendung der Ereignisse, finden Sie nicht auch, Vincent? Die New Yorker hören nie auf, mich zu erstaunen.«

D’Agosta erinnerte sich vage, etwas über einen Irren namens Savonarola, eine Figur in der italienischen Geschichte, gelesen zu haben, wusste aber nicht genau, was es mit ihr auf sich hatte. »Die Ruhigen da – die machen mir mehr Angst als der Pöbel. Die scheinen es ernst zu meinen.«

»In der Tat«, sagte Pendergast. »Es sieht so aus, als hätten wir es hier nicht nur mit einem Serienmörder zu tun, sondern mit einer sozialen Protestbewegung – oder sogar zwei.«

»Ja, genau. Und wenn wir den Fall nicht bald lösen, bricht in New York ein gottverdammter Bürgerkrieg aus.«

35

Marsden Swope trat in die Dezemberkälte vor seiner Wohnung in der East 125th Street und atmete tief aus. Damit versuchte er, die abgestandene Luft seiner Einzimmer-Souterrain-Wohnung aus den Lungenflügeln rauszubekommen. Nach der Demonstration am gestrigen Nachmittag steckte er voller Energie. Seitdem – achtzehn Stunden am Stück – hatte Swope an seinem alten Gateway-Computer gesessen, er hatte gebloggt, getwittert, über Facebook, Instagram und E-Mail kommuniziert. Es ist schon erstaunlich, dachte er, wie sich eine bescheidene Idee in so kurzer Zeit zu etwas derart Großem entwickeln kann. Die Welt gierte nach dem, was er anzubieten hatte. Was für ein eigenartiges Gefühl – nach all den Jahren, in denen er sich, unbekannt und arm, abgerackert hatte.

Wieder atmete er mehrmals tief durch. Ihm war ein wenig schwindlig, nicht nur, weil er so lange auf einen Computerbildschirm gestarrt, sondern auch weil er seit zwei Tagen nichts mehr gegessen hatte. Er hatte zwar keinen Hunger, doch ihm war klar, dass er etwas essen musste, um weitermachen zu können. Sein Körper war ausgepowert, aber sein Geist war hellwach.

Draußen auf dem Bürgersteig, im hellen, kalten Winterlicht, brausten Autos vorbei, rücksichtslose Menschen gingen ihren bedeutungslosen Geschäften nach. Er ging zum Broadway runter und überquerte ihn, lief unter den erhöhten Bahngleisen hindurch, während über ihm ein Zug ratternd und donnernd seinen Weg nach Norden fortsetzte, dann bog er an der Ecke 125th und Broadway in Richtung McDonald’s ab.

Der Laden war voll mit den üblichen Obdachlosen, die versuchten, der Kälte zu entfliehen, indem sie sich an einem Becher Kaffee festhielten, sowie der unvermeidlichen Gruppe von Asiaten, die Karten spielten. Er hielt inne. Hier waren die völlig Unsichtbaren, die Armen, die von den Reichen und Mächtigen mit den Füßen zertreten, zermalmt und zerstört wurden. Doch bald, schon sehr bald, würde sich ihr Leben ändern … dank ihm.

Aber es war noch nicht ganz so weit. Am Verkaufstresen bestellte er zwei Dutzend Chicken McNuggets und eine Flasche Kakao, nahm seine Bestellung entgegen und ging zu einem der Tische. Auch er war so gut wie unsichtbar. Niemand kannte ihn, kein Mensch sah ihn an. Und in der Tat, es gab da nicht viel zum Anschauen – ein kleiner Mann in den Fünfzigern mit schütteren grauen Haaren, einem kurz getrimmten Bart, hager und unterernährt, bekleidet mit einer braunen Daunenjacke von der Heilsarmee, Stoffhose und Secondhand-Schuhen.

Ehemals Jesuitenpriester, war Swope vor zehn Jahren aus der »Societas Jesu« ausgetreten. Der Grund: Er wollte vermeiden, dass man ihn exkommunizierte, hauptsächlich wegen seines lautstark vorgebrachten Abscheus vor der Heuchelei der katholischen Kirche, was das viele Geld und das Grundeigentum betraf, welche sie im Lauf der Jahrhunderte angehäuft hatte, was ja in direktem Widerspruch zu den Lehren Jesu über Armut stand. Als Jesuit hatte er ein Armutsgelübde abgelegt, doch welchen Gegensatz stellte dieses zum obszönen Reichtum der Kirche dar. »Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt.« Das war seines Erachtens die klarste Aussage, die Jesus während seiner Zeit auf Erden je getroffen hatte. Und doch wurde sie, so wie er es viele Male gegenüber seinen Oberen – sehr zu deren Missfallen – ausgedrückt hatte, von vielen sogenannten Christen abgelehnt.

Aber nicht mehr lange. Die Unterdrückten würden das nicht länger hinnehmen. Die Antwort lag allerdings nicht in einer äußeren Revolution von der Art, wie sie so viele Menschen unterstützten, die plötzlich zu protestieren begonnen hatten. Denn nichts würde sich je an der Habgier des Menschen ändern. Nein, wozu Swope aufrief, das war eine innere Revolution. Die in der Welt herrschende Gier ließ sich nicht ändern, doch sich selbst konnte man ändern, man konnte sich zu Armut und Einfachheit bekennen und alles Eitle zurückweisen.