Die Mitglieder der Vollversammlung liebten die Rede und unterbrachen sie mehrmals, um zu applaudieren. Hier ist etwas nur Gutes, dachte Attiah, etwas, auf das sich alle Menschen und Nationen einigen können.
Attiah hörte, dass die Rede langsam zu ihrem Ende kam. Jetzt erreichte Dr. Adeyemis vibrierende Stimme eine Art Crescendo, als sie die Welt aufrief, sich dazu zu verpflichten, HIV/Aids auszumerzen, so wie man auch die Pocken ausgemerzt hatte. Es war möglich. Es würde zwar Geld, Engagement und Investitionen in Bildung seitens der Regierungen der Welt erfordern, doch der Erfolg lag in greifbarer Nähe.
Wieder Applaus. Adeyemi schloss ihre Rede zu stehenden Ovationen. Attiah wappnete sich – gleich würden alle in die Lobby drängen. Kurz darauf öffneten sich die Türen, und die ausländischen Würdenträger, Pressevertreter und Gäste strömten aus dem Saal. Ihnen folgten Adeyemi und ihre Entourage aus nigerianischen Politikern, Ärzten und Sozialarbeitern. Die Gruppe wurde umringt von den eigenen Sicherheitsleuten. Was ist das doch für eine Welt, dachte Attiah, dass sogar eine Heilige wie sie Feinde hat? Aber so war es nun einmal, und die Sicherheitsvorkehrungen rings um sie herum waren enorm streng, wobei sie noch von den hervorragend ausgebildeten DSS-Wachleuten der Vereinten Nationen verstärkt wurden.
Aufgeregt sich unterhaltend, noch immer ganz erfüllt von der inspirierenden Rede, strömten die Menschen weiterhin aus dem Saal. Sie gingen an den Samtkordeln entlang, alles verlief in geordneten Bahnen. Dr. Adeyemi schritt mit ihrem Gefolge und den Sicherheitsleuten und Anhängern durch die Lobby. Diese war so voller Menschen, wie Attiah es noch nie erlebt hatte. Sie alle richteten sich nach Adeyemi aus wie Bienen, die ihre Königin umschwärmten. Die Medienvertreter waren natürlich auch da. Sie hatten ihre Fernsehkameras aufgestellt, wohin man auch schaute.
Plötzlich vernahm Attiah in schneller Folge eine Reihe von Explosionen: peng, peng-peng, peng, peng! Weil er im Schusswaffengebrauch gut geschult war, erkannte er sofort, dass es sich hier in Wahrheit nicht um Schüsse, sondern um Feuerwerkskörper handelte. Doch die Menschenmenge verfügte nicht über derartige Kenntnisse, sodass eine jähe, überwältigende Panik entstand. Geschrei und Gekreische erfüllten die Lobby. Die Menschen liefen los, um in Deckung zu gehen, irgendeine Deckung, sie rannten wie verrückt in alle Richtungen, wobei sie zusammenstießen, stürzten, aufeinander herumtrampelten. Es war, als wäre ihr Gehirn ausgeschaltet worden und als hätte der reine Instinkt das Kommando übernommen.
Attiah und seine Kollegen versuchten zwar, die Ordnung wiederherzustellen und die sorgfältig geprobte Antiterrorübung umzusetzen, doch es war aussichtslos. Niemand hörte zu; niemand konnte zuhören; und dann stürzten die Samtkordeln, die Haltestangen, die Absperrungen in sich zusammen wie ein Kartenhaus.
Fünfzehn Sekunden nach der Explosion der Feuerwerkskörper waren kurz hintereinander zwei dumpfe Detonationen zu hören. Im Nu füllte sich die riesige Lobby mit dichtem Qualm – was den Horror auf eine Weise steigerte, wie er das kaum für möglich gehalten hätte. Menschen krochen auf allen vieren über den Boden, sie schrien, griffen und zerrten aneinander wie Ertrinkende. Attiah versuchte zu helfen, tat alles in seiner Macht Stehende, um die Menschen zu beruhigen und zu den bekannten Sicherheitszonen zu führen, aber sie kamen ihm alle vor wie völlig panische, hirnlose Tiere. Aus dem Nebel drang das Geheul von Sirenen zu ihm. Draußen auf dem Platz kamen, unsichtbar in dem Qualm, die Polizei, die Feuerwehr und die Antiterrorteams an. Die blinde Panik setzte sich fort und fort und fort. Und dann lichtete sich der Nebel. Zuerst war es nur ein Aufhellen der Dunkelheit, dann ein schmutzig braunes Licht und schließlich ein Dunst. Die Türen zur Lobby standen offen, die Luftumwälzungsanlage lief auf Hochtouren, die Polizisten des NYPD stürmten gemeinsam mit mehreren Antiterroreinheiten das Gebäude. Und während sich der Rauch verzog, sah Attiah, dass fast alle Leute noch immer auf dem Boden lagen, nachdem sie alles Erdenkliche getan hatten, um in Deckung zu gehen, als die Rauchbomben explodierten, sich flach auf den Boden geworfen hatten und in Sicherheit gekrochen waren.
Plötzlich sah Attiah etwas, das ihm einen solchen Schreck versetzte, dass er den Anblick sein Leben lang nicht mehr vergessen würde. Auf dem Boden lag Dr. Wansie Adeyemi, auf dem Rücken. Dass sie es war, erkannte Attiah an ihrem auffälligen Kitenge-Gewand. Doch sie hatte keinen Kopf mehr. Zwei Sicherheitsleute, von denen er angenommen hatte, diese hätten sie beschützt, lagen neben ihr, ebenfalls tot.
Noch immer breitete sich eine riesige Blutlache an diesem Ort des Gemetzels aus. Und während den Menschen rings um Dr. Adeyemis Leiche das ganze Ausmaß des mörderischen Anschlags dämmerte, erhob sich eine kreischende Totenklage. Gleichzeitig liefen ihre Sicherheitsleute verwirrt und wütend herum und suchten nach dem Mörder, während die Beamten der New Yorker Polizei bereits mit dem Mobilisieren, Organisieren, Dirigieren und lautstarken Räumen der zu Tode erschrockenen Menschenmenge begannen.
Und während Attiah durch die Lobby mit ihrem dunklen, wabernden Rauch, den Schreien der völlig Verängstigten, den behelmten Gestalten in Kampfanzügen, die mit ihren Lautsprechern durch die Düsternis eilten und Anweisungen riefen, auf die dichte Masse blinkender Warnlichter und Sirenen draußen vor dem Gebäude schaute, hatte er das Gefühl, als wäre er in die Hölle hinabgestiegen.
37
Bryce Harriman begann im gläsernen Aufzug im DigiFlood-Gebäude mit dem langen Aufstieg, während unter ihm die Lobby zu einem kleinen Punkt schrumpfte. Anton Ozmian höchstpersönlich hatte um ein Treffen gebeten, was natürlich genügte, um Harriman nun wirklich neugierig zu machen – doch im Moment gingen ihm ganz andere Dinge durch den Kopf.
Ganz oben auf der Liste: der Mord an Dr. Wansie Adeyemi. Seit seinem Interview vom Vortag in America’s Morning war Harriman der Stolz der Stadt, jede seiner Prognosen wurde für bare Münze genommen. Es war ein herrlich zu Kopf steigendes Gefühl. Und deshalb hatte ihn dieser neue Mord, so tragisch er auch war, wie ein Tiefschlag getroffen. Oberflächlich betrachtet schien die Enthauptung – und hier vor allem das Opfer – nichts mit den früheren Todesfällen gemeinsam zu haben. Aber das war ja gerade das Problem. Harriman war sich darüber im Klaren, dass seine Kontrolle über die Enthaupter-Story davon abhing, ob er seine Theorie aufrechterhalten konnte. Er hatte an diesem Tag drei Anrufe von seinem Chefredakteur erhalten, der fragte, ob er den Schmutz schon ausgegraben habe.
Den Schmutz. Dieser Schmutz war genau das, was er brauchte – die Leichen im Keller dieser heiligen Frau, dieser Mutter Teresa, die vor Kurzem den Friedensnobelpreis erhalte hatte. Es musste da Leichen im Keller geben – nichts anderes ergab Sinn. Deshalb hatte er sich in den Stunden im Anschluss an Adeyemis Tod auf eine verzweifelte Suche nach jener schmutzigen, aber gut versteckten Vergangenheit begeben. Er hatte ganz tief gegraben, mit jedem geredet, den er finden konnte, der irgendetwas über sie wusste, Leute unter Druck gesetzt, gefordert, dass sie enthüllten, was sie seines Erachtens mit Sicherheit verbargen. Und gleichzeitig war er sich – wobei ihm durchaus klar war, dass er sich wie eine entsetzliche Nervensäge aufführte – über eines völlig im Klaren: Sollte er nichts über die Frau ausgraben können, würden seine Theorie, seine Glaubwürdigkeit und seine Kontrolle über die Story in Gefahr geraten.