»Worauf wollen Sie hinaus?«
»Schlicht auf Folgendes: Ich habe ihn für diese Befragung ausgewählt, weil er am meisten Grund hatte, die Frau herabzusetzen und zu verunglimpfen.«
»Sie meinen, sie fertigzumachen?«
»In Ihrer Ausdrucksweise, ja, genau.«
D’Agosta überlegte einen Moment. »Warum haben Sie mir das denn nicht gesagt, als wir dort hineingegangen sind?«
»Hätte ich das gesagt, dann hätten Sie ihn nicht so hart bedrängt, wie Sie’s getan haben. Ich habe es getan, um Ihnen zahllose zusätzliche Stunden fruchtloser Recherchen und Befragungen zu ersparen. Sie können einen Monat lang nach Leichen im Keller suchen, doch ich fürchte, Sie werden keine finden. Die Wahrheit ist so einfach, wie sie scheint: Die Frau ist eine Heilige.«
»Aber das kann nicht stimmen! Damit wäre doch unser Motiv hinfällig.«
»Ah, aber es ist nicht ›unser‹ Motiv.«
»Sie glauben nicht daran?«
Pendergast zögerte. »Es gibt in der Tat ein Motiv für die Morde. Aber es ist nicht das Motiv, an das Sie, die New Yorker Polizei und ganz New York offenbar glauben.«
»Ich …«, begann D’Agosta, dann hielt er inne. Er war ernüchtert, hatte das Gefühl, manipuliert, im Dunkeln gelassen worden zu sein. Typisch Pendergast, doch in diesem Fall fühlte er sich sogar verarscht, und das machte ihn wütend. Mehr als wütend. »Oh, ich habe schon verstanden – Sie haben eine bessere Theorie. Eine, die Sie wie üblich vor allen verborgen haben.«
»Ich tue so etwas niemals willkürlich. Meine Irreführungen haben stets Methode.«
»Dann lassen Sie mal Ihre brillante Theorie hören.«
»Ich habe nicht gesagt, dass ich eine Theorie habe, ich habe nur gesagt, dass Ihre falsch ist.«
D’Agosta stieß ein harsches Lachen aus. »Na, dann reißen Sie sich doch den Arsch auf und jagen Ihren Theorien nach. Ich jedenfalls weiß, was ich zu tun habe!«
Wenn Pendergast sich über diesen Wutausbruch wunderte, so zeigte sich das höchstens darin, dass sich seine blassen Augen etwas weiteten. Er sagte nichts, sondern nickte nur, drehte sich dann auf seinen maßgefertigten englischen Schuhen um und begann, die Second Avenue hinunterzugehen.
39
Als Pendergast diesmal zu einem Besuch auf dem Gelände von DigiFlood eintraf, wurde sein Rolls-Royce nicht auf den Privatparkplatz Anton Ozmians eingewiesen, noch nicht einmal in die Firmengarage. Vielmehr musste Proctor im Straßengewirr von Lower Manhattan in zweiter Reihe parken. Auch wurde Pendergast nicht im Handumdrehen im Privataufzug himmelwärts befördert; vielmehr musste er sich mit den übrigen Leuten durch den Haupteingang ins Gebäude drängen und sich vor der Security ausweisen. Sein FBI-Ausweis genügte zwar, dass ihn die drei Wachmänner am Checkpoint durchließen und in einen Lift ins oberste Stockwerk einsteigen ließen, aber dort, am Eingang zu der Zen-ähnlichen Vorstandsetage, nahmen ihn zwei überaus kräftige Herren in zu engen dunklen Anzügen in Empfang, die beide aussahen, als könnten sie zwischen den Fingerknöcheln Paranüsse knacken.
»Special Agent Pendergast?«, sagte der eine in ruppigem Ton, während er sich gleichzeitig eine SMS auf seinem Handy ansah.
»In der Tat.«
»Sie haben keinen Termin bei Mr. Ozmian.«
»Ich habe mehrmals versucht, einen Termin zu vereinbaren, doch leider ohne Erfolg. Ich habe mir gedacht, ich könnte, wenn ich persönlich hier erscheine, ein günstigeres Ergebnis erzielen.«
Diese Antwort, die Pendergast in seinem butterweichen Südstaaten-Tonfall vorbrachte, prallte an den beiden Männern ohne sichtbare Wirkung ab. »Mr. Ozmian empfängt keine Besucher ohne Termin.«
Pendergast machte eine Kunstpause. Dann steckte er seine blasse weiße Hand noch mal in seinen schwarzen Anzug und holte das Mäppchen mit dem FBI-Ausweis und seinem Ausweis hervor. Er ließ das Mäppchen aufklappen und zeigte die Ausweise erst dem einen, dann dem anderen Mann, wobei er sie jedem gut zehn Sekunden vor das Gesicht hielt. Währenddessen tat er so, als würde er ihre Namensschilder mustern und sich ihre Namen einprägen.
»Die Terminvereinbarung stellte nur eine Geste der Höflichkeit dar«, sagte er und mischte ein wenig Härte in seinen sanften Tonfall. »Als Special Agent des Bundesamtes für Ermittlung, der einen ungelösten Mordfall untersucht, gehe ich hin, wohin ich will und wann ich will, solange ein vernünftiger Anlass dazu besteht. Ich schlage also vor, dass ich jetzt mit Ihrem Vorgesetzten sprechen kann und Sie mich ohne Verzögerung zu ihm vorlassen. Andernfalls könnten Sie beide sich ganz persönlich Unannehmlichkeiten einhandeln.«
Die beiden Männer dachten kurz darüber nach, dann schauten sie sich unsicher an. »Warten Sie hier«, sagte der eine, drehte sich um, ging durch den großen Wartebereich und verschwand durch die doppelflügelige Birkenholztür, während der andere Wache hielt.
Es dauerte eine Viertelstunde, bis er zurückkehrte. »Folgen Sie uns bitte.«
Sie gingen durch die Tür in die dahinter befindlichen Büroräume. Doch statt sich durch dieses Labyrinth bis zur letzten, schweren Tür zu begeben, die in Ozmians privates Büro führte, gingen die Männer in die entgegengesetzte Richtung, auf einen Seitenflur zu, in dem alle Türen geschlossen waren. Vor einer Tür blieben die Männer stehen, klopften an.
»Herein«, ertönte eine Stimme.
Die Männer öffneten die Tür und bedeuteten Pendergast, er solle eintreten. Dann schlossen sie sie, ohne dass sie selbst hineingingen. Pendergast fand sich in einem gut ausgestatteten Büro mit Blick auf das Woolworth-Gebäude wieder; die eine Wand war vom Boden bis zur Decke mit juristischen Fachbüchern bedeckt. Hinter dem aufgeräumten Schreibtisch saß ein schlanker Mann mit schütterem Haar. Er trug eine Rundbrille und erinnerte irgendwie an eine Eule. Er erwiderte Pendergasts Blick. Eine Art Lächeln umspielte kurz seine schmalen Lippen, bevor es wieder verschwand.
»Special Agent Pendergast«, sagte der Mann mit hoher, näselnder Stimme. Er deutete auf zwei Stühle, die vor dem Schreibtisch standen. »Bitte setzen Sie sich.«
Pendergast tat es. Von drei Wachleuten über zwei Leibwächter bis zu einem Anwalt – ein interessanter Fortschritt.
»Gestatten, Weilmann«, sagte der Mann, hinter seinem Schreibtisch sitzend. »Ich bin Mr. Ozmians Anwalt.«
Pendergast nickte leicht zum Gruß.
»Mir wurde gesagt, Sie hätten Mr. Ozmians, ähm, Mitarbeiterin mitgeteilt, Sie hätten im Rahmen Ihrer Arbeit als Special Agent des FBI das Recht, zu kommen und zu gehen, wie Sie wollen, und jeden zu befragen, mit dem Sie zu sprechen gedenken. Mr. Pendergast, Sie und ich wissen, dass dies nicht der Fall ist. Ich hege keinerlei Zweifel daran, dass Mr. Ozmian nur allzu gern mit Ihnen sprechen würde – vorausgesetzt, Sie haben einen richterlichen Beschluss dabei.«
»Das habe ich nicht.«
»Das tut mir leid für Sie.«
»Angesichts der Tatsache, dass ich im Fall der Ermordung seiner Tochter ermittle, hätte ich geglaubt, dass Mr. Ozmian größtes Interesse daran hat, diesen Ermittlungen weiterzuhelfen.«
»Und das hat er ja! Aber ich weiß, Mr. Pendergast, dass Sie bereits mit Mr. Ozmian gesprochen haben. Er hat einer Vernehmung zugestimmt – und zwar einer über die Maßen leidvollen. Er hat zudem Ihre Ermittlung unterstützt, indem er den Leichnam seiner Tochter identifiziert hat – ein noch schmerzlicheres Unterfangen. Als Gegenleistung für diese Kooperation hat er einen Preis bezahlt, soll heißen: einen völligen Mangel an Fortschritten und ein schockierendes Schweigen seitens der ermittelnden Behörden. Infolgedessen sehe ich keinen Grund, warum er sich weiteren schmerzlichen Befragungen unterziehen sollte – zumal er keinerlei Vertrauen hat, dass Sie oder die New Yorker Polizei diesen Fall lösen werden. Mr. Ozmian hat Ihnen bereits alle sachdienlichen Informationen über seine Tochter ausgehändigt. Ich möchte Ihnen raten, damit aufzuhören, alte Geschichten aufzuwärmen, und sich stattdessen auf die Lösung des Falls zu konzentrieren.«