»Die Fälle«, korrigierte Pendergast. »Es sind insgesamt vierzehn Menschen ums Leben gekommen.«
»Die anderen dreizehn Opfer sind Mr. Ozmian völlig gleichgültig, es sei denn, diese Fälle könnten dabei helfen, den Fall seiner Tochter zu lösen.«
Pendergast lehnte sich im Stuhl zurück. »Mir scheint, dass die Öffentlichkeit daran interessiert sein könnte, zu erfahren, dass Mr. Ozmian nicht mit den Ermittlungen kooperiert.«
Jetzt war Weilmann an der Reihe, sich auf dem Stuhl nach hinten zu lehnen. Ein blutarmes Lächeln trat in seine blassen Gesichtszüge. »Mr. Ozmians Name wird nun schon seit Jahren in der Öffentlichkeit in, sagen wir, weniger als schmeichelhaftem Licht dargestellt.« Der Anwalt hielt kurz inne. »Lassen Sie es mich Ihnen ganz unverblümt sagen, und verzeihen Sie mir meine ordinäre Ausdruckweise: Mr. Ozmian kümmert sich einen Scheißdreck um die Meinung der Öffentlichkeit. Zurzeit geht es ihm nur um zweierlei: um die Leitung seines Unternehmens und darum, den Mörder seiner Tochter vor Gericht zu bringen.«
Pendergast dachte darüber nach. Und es stimmte ja: So wie König Mithridates, der verschiedene Gifte in immer größerer Dosis eingenommen hatte, bis er immun dagegen geworden war, scherte sich auch Ozmian keinen Deut um seinen Ruf. Deshalb war Pendergasts übliche Methode – Drohungen und angedeutete Erpressung – wirkungslos.
Schade.
Doch er dachte gar nicht daran, lockerzulassen. Mit einem Ausdruck der Selbstzufriedenheit schlug er sich leicht auf die Brust seiner Anzugjacke – deren Innentasche nichts enthielt. »Übrigens haben wir kürzlich einen nicht unbeträchtlichen Durchbruch erzielt, einen, den das FBI Mr. Ozmian mitteilen wollte. Nicht nur wird er diesen interessant finden, sondern möglicherweise auch einige Informationen beisteuern können, die uns dabei helfen, die Spur weiterzuverfolgen. Diese Entdeckung ist derzeit noch vertraulich, was auch der Grund dafür ist, warum ich noch nicht darüber gesprochen habe. Ich möchte Sie daher bitten, jede Erwähnung dieser Entdeckung für sich zu behalten, wenn Sie gleich Mr. Ozmian bitten werden, mir eine private Audienz zu gewähren.«
Einen Moment lang schauten die beiden Männer sich nur an. Und dann erschien wieder das leise Lächeln auf dem Gesicht des Anwalts. »Eine vielversprechende Entwicklung in der Tat, Agent Pendergast! Wenn Sie mir eine Zusammenfassung dessen geben, was Sie in Ihrer Tasche versteckt haben, übermittle ich diese umgehend an Mr. Ozmian. Und ich hege keinerlei Zweifel daran, dass er Sie, wenn es sich um einen wirklich so bedeutenden Durchbruch handelt, nur allzu gern empfangen wird.«
»Die Vorschriften verlangen, dass ich ihm die Informationen persönlich aushändige«, sagte Pendergast.
»Natürlich, natürlich – nachdem ich ihm die Zusammenfassung gegeben habe.«
Stille im Raum. Nach einem Augenblick ließ Pendergast die Hand von der Brust seines Jacketts herabfallen und stand auf. »Es tut mir leid, aber diese Informationen sind nur für die Verwendung durch Mr. Ozmian bestimmt.«
Darauf wurde das Lächeln des Anwalts – oder war es ein Grinsen? – ein wenig breiter. »Natürlich«, sagte er und erhob sich ebenfalls. »Wenn Sie die Vorladung haben, dürfen Sie sie ihm zeigen. Und nun darf ich Sie zum Aufzug begleiten?«
Wortlos folgte Pendergast dem Anwalt aus dessen Büro und durch die hohen, hallenden Räume zu den Fahrstühlen.
40
Les Tuileries, das Drei-Michelin-Sterne-Restaurant in einem ruhigen Wohnblock in den East Sixties unweit der Madison Avenue, machte an diesem Tag, dem Abend vor Silvester, ein reges, wenn auch diskretes Geschäft. Les Tuileries war etwas ganz Seltenes im zeitgenössischen New York, ein französisches Restaurant im alten Sticlass="underline" dunkles Holz und Leder mit Patina. Es umfasste ein halbes Dutzend Räume, die vornehmen kleinen Zimmern ähnelten und mit Sitzbänken in Nischen unter Ölgemälden in schweren, vergoldeten Rahmen möbliert waren. Kellner und Hilfskellner, so zahlreich wie Ärzte auf einer Intensivstation, scharwenzelten um die Gäste herum. Hier hob ein halbes Dutzend Männer in gestärkten weißen Schürzen auf einen Wink vom Oberkellner mit der Präzision gut gedrillter Soldaten auf einem Paradeplatz an einem großen Tisch gleichzeitig Silberkuppeln von Tellern und präsentierte die darunter verborgenen Köstlichkeiten. Dort filetierte ein Kellner gekonnt eine Dover-Seezunge – natürlich an diesem Morgen eingeflogen aus England. An einem anderen Tisch mischte ein weiterer Kellner unter den aufmerksamen Blicken seiner Gäste Anchovis, Kapern und ein rohes Ei in einer Schüssel zu Salade Nicoise à la Cap Ferrat.
In einer Ecke in einem der hinteren Räume des Les Tuileries hatten der Stellvertretende Direktor Longstreet und Special Agent Pendergast – sie hatten ein wenig versteckt auf einer voluminösen karmesinroten Sitzbank Platz genommen – soeben ihre Vorspeise gegessen, Longstreet Escargots à la Bourguignonne, Pendergast eine Terrine mit Morcheln und Entenleberpastete. Der Sommelier kehrte mit einer zweiten 600-Dollar-Flasche Mouton Rothschild, Jahrgang 1996, zurück – Longstreet hatte die erste probiert und mit der Begründung weggeschickt, sie schmecke nach Korken. Als der Mann die Flasche öffnete, gönnte Longstreet Pendergast einen Blick von der Seite. Longstreet hatte sich schon immer für einen Feinschmecker gehalten und in so vielen der besten Pariser Restaurants gespeist, wie seine Zeit und sein unabhängiges Vermögen es erlaubten. Er war hier ebenso sehr zu Hause wie in seiner Küche. Und er sah, dass Pendergast sich genauso wohlfühlte, während er die Karte las und dem Kellner bohrende Fragen stellte. Die Liebe zur französischen Küche und zu französischen Weinen war etwas, das sie schon lange gemeinsam hatten, aber Longstreet musste zugeben, dass ihm der Mann, einmal abgesehen von der Feinschmeckerkunst und obwohl sie bei den Special Forces viel Zeit auf engstem Raum verbracht hatten, ein Rätsel war und immer bleiben würde.
Longstreet akzeptierte den kleinen Schluck des recht jungen Premier Cru, den der Sommelier ihm anbot, schwenkte den Wein im Glas, inspizierte seine Farbe und seinen »Körper«, nippte daran und schmeckte ihn im Mund. Er nahm einen zweiten, kritischeren Schluck. Schließlich stellte er das Glas zurück und nickte dem Sommelier zu, der losging, um die Flasche zu dekantieren. Nachdem der Sommelier zurückgekehrt war, um ihre Gläser zu füllen, trat ihr Kellner an den Tisch. Longstreet bestellte sautiertes Kalbsbries in einer Calvados-Sauce, Pendergast orderte die Pigeon et Légumes Grillés Rabasse au Provençal. Der Kellner dankte den Herren, dann entschwand er in die schummrigen, gemütlichen Räumlichkeiten jenseits des Tisches.
Longstreet nickte zustimmend. »Ausgezeichnete Wahl.«
»Ich kann Trüffeln nie widerstehen. Eine teure Angewohnheit, aber eine, die ich, wie ich feststelle, nur schwer ablegen kann.«
Longstreet nahm einen größeren, nachdenklicheren Schluck vom Bordeaux. »Diese Morde erzeugen einen ungeheuren Aufruhr – in allen Schichten der Bevölkerung. Bei den Reichen, weil sie sich als Zielscheibe sehen, und beim Rest wegen des Nervenkitzels, mitzuerleben, wie es den Ultrareichen mal richtig gezeigt wird.«
»In der Tat.«
»Ich würde dieser Tage nicht dein Freund D’Agosta sein wollen. Dem NYPD wird die Hölle heißgemacht. Und wir sind ebenfalls blamiert.«
»Du beziehst dich auf das Verhaltensprofil?«
»Ja. Besser gesagt, auf das Fehlen desselben.« Auf Ersuchen der New Yorker Polizei hatte Longstreet den Fall des Enthaupters der Abteilung für Verhaltenswissenschaften (BSU) des FBI in Quantico vorgelegt und um ein psychologisches Profil gebeten. Serienmörder, ganz gleich, wie bizarr, fielen in zwei Kategorien, und die BSU hatte eine Datenbank von jedem bekannten Typus in der Welt entwickelt. Wenn ein noch unbekannter Mörder auftauchte, waren die Verhaltenswissenschaftler in der Lage, diesen in eines der bestehenden Schemata einzupassen und ein psychologisches Profil zu erstellen – seine Motive, Methoden, Verhaltensmuster, Arbeitsgewohnheiten, selbst solche Dinge wie den sozioökonomischen Hintergrund und ob er ein Auto besaß oder nicht. Diesmal hatten die Profiler den Enthaupter in keine der Kategorien einordnen können; der Mörder passte in kein bekanntes Schema. Statt eines Profils hatte Longstreet einen langen, zurückhaltend formulierten Bericht erhalten, der auf eine Tatsache hinauslief: Für diesen Mordfall waren die Datenbanken in Quantico nutzlos.