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Longstreet seufzte. »Du bist der Experte, was Serienmörder angeht«, sagte er. »Was hältst du von dem hier? Ist er so einzigartig, wie die Profiler von der BSU behaupten?«

Pendergast neigte den Kopf. »Ich bemühe mich noch immer, das Ganze zu verstehen. Und ehrlich gesagt bin ich mir nicht sicher, dass wir es hier mit einem Serienmörder zu tun haben.«

»Wieso das? Er hat vierzehn Menschen ermordet. Oder dreizehn, wenn man den ersten Toten nicht mitzählt.«

Pendergast schüttelte den Kopf. »Alle Serienmörder weisen im Kern eine pathologische oder psychotische Motivation auf. In diesem Fall ist das Motiv womöglich … relativ normal.«

»Normal? Ein halbes Dutzend Menschen umzubringen und zu enthaupten? Hast du den Verstand verloren?« Fast hätte Longstreet laut aufgelacht. Das war klassischer Pendergast, er wollte erstaunen, erfreute sich daran, alle um ihn herum mit irgendeiner hanebüchenen Aussage zu verblüffen.

»Adeyemi zum Beispiel. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie keine Leichen im Keller hat, keine schmutzige Vergangenheit. Außerdem war sie nicht außergewöhnlich reich.«

»Dann ist die aktuelle Theorie über die Motivation des Enthaupters wertlos.«

»Oder vielleicht …« Pendergast hielt kurz inne, während ihr Hauptgang serviert wurde.

»Vielleicht was?«, fragte Longstreet, als er sich mit großem Appetit über sein Kalbsbries hermachte.

Pendergast winkte ab. »Es kommen hier viele Theorien infrage. Vielleicht war ja Adeyemi, oder eines der anderen Mordopfer, die ganze Zeit das wirkliche Ziel, und die anderen Morde stellen nichts weiter als Ablenkungsmanöver dar.«

Longstreet probierte sein Gericht – und war enttäuscht: Das blassrosa Bries war zu durchgebraten. Klappernd legte er das Silberbesteck auf den Teller, winkte dem Kellner und ließ das Essen zurückgehen; man solle ihm ein neues bringen. Er wandte sich wieder zu Pendergast um. »Hältst du das wirklich für wahrscheinlich?«

»Nicht wahrscheinlich. Sogar für kaum möglich.« Pendergast hielt einen Moment inne, bevor er fortfuhr. »Mir ist noch kein Fall begegnet, der sich so sehr der Analyse widersetzt. Es ist offensichtlich, dass die Köpfe fehlen, und die primären Mordopfer wurden von starken Sicherheitsmaßnahmen geschützt. Das sind die einzigen Gemeinsamkeiten, die wir bislang haben. Das reicht bei Weitem nicht, um einen Fall darauf aufzubauen, sondern lässt eine breite Palette von möglichen Motiven zu.«

»Und was jetzt?« Zwar würde Longstreet das Pendergast gegenüber niemals zugeben, doch sah er ihm gern beim Nachdenken zu.

»Wir müssen zurück zum Anfang gehen, zum ersten Mord, und uns von dort vorarbeiten. Er ist der Schlüssel zu allem, was seitdem passiert ist, und zwar genau deshalb, weil er ganz am Beginn steht. Der erste Mord ist der merkwürdigste von allen, und wir müssen die Anomalien begreifen, ehe wir die Muster in den darauffolgenden Geschehnissen verstehen können. Warum zum Beispiel hat jemand den Kopf vierundzwanzig Stunden, nachdem die junge Frau ermordet worden war, fortgeschafft? Bis auf mich scheint das niemanden zu beunruhigen.«

»Hältst du das wirklich für bedeutsam?«

»Ich halte es für entscheidend. Ich habe heute sogar kurz bei Anton Ozmian vorbeigeschaut, um weitere Informationen zu erhalten. Leider hat mein üblicher Griff in die Trickkiste nichts gebracht, und ich bin nicht an seinem Gefolge von Kriechern, Anwälten, Speichelleckern, Leibwächtern und Lakaien vorbeigekommen. Ich musste den Rückzug antreten, was mir einigermaßen peinlich ist.«

Longstreet verkniff sich ein Lächeln. Er wäre liebend gern dabei gewesen, als Pendergast auf solcherlei Weise in seinen Ermittlungen behindert wurde. Es geschah ja so selten. »Warum habe ich eigentlich das Gefühl, dass du mich gleich um etwas bitten wirst?«

»Ich benötige die Macht, die dein Titel verleiht, H. Ich brauche das ganze Gewicht des FBI hinter mir, wenn ich mich in die Höhle des Löwen begebe.«

»Verstehe.« Longstreet wartete, dass sich das Schweigen mit Bedeutung auflud. »Aloysius, du weißt, dass du noch immer auf meiner Abschussliste stehst, ja? Du hast mich absichtlich in eine Lage gebracht, in der ich einen Eid missachtet habe, den ich bei meinem Leben geschworen habe.«

»Dessen bin ich mir durchaus bewusst.«

»Gut. Dann tue ich, was ich kann, um dir die Türen zu öffnen – aber danach ist es deine Show. Ich bin dabei, aber nur als Beobachter.«

»Vielen Dank. Das ist vollkommen akzeptabel.«

Der Kellner kehrte mit einem neuen Teller mit Kalbsbries zurück. Er stellte ihn vor Longstreet auf den Tisch, dann trat er einen Schritt zurück, schaute dem Gast ängstlich zu und wartete auf dessen Meinung. Der Stellvertretende Direktor schnitt mit dem Messer eine Scheibe ab, spießte sie mit der Gabel auf und hob die wacklige Masse an den Mund.

»Perfekt«, verkündete er, während er mit halb geschlossenen Augen kaute.

Daraufhin verneigte sich der Kellner, erfreut und erleichtert zugleich, wandte sich um und entschwand in das von Gaslicht erhellte Dunkel.

41

Bryce Harriman trat auf die Vorderveranda des kleinen, gepflegten Hauses im Kolonialstil in einer Wohnstraße in Dedham im Bundesstaat Massachusetts, dann drehte er sich um, um dem Besitzer die Hand zu schütteln – ein zwar körperlich gebrechlicher, aber geistig hellwacher Achtzigjähriger mit spärlichem weißem Haar, das er mit Brillantine gelackt hatte.

»Vielen Dank für Ihre Zeit und Ihre Offenheit, Mr. Sanderton«, sagte Harriman. »Sind Sie sich sicher, was die eidesstattliche Erklärung betrifft?«

»Wenn Sie es für nötig halten. Es war eine verdammt furchtbare Sache – es tat mir leid, dass ich das bezeugen musste.«

»Ich sorge dafür, dass Ihnen ein Notar bis zur Abendessenszeit eine Kopie zum Unterzeichnen zustellt, zusammen mit einer Overnight-Versandtasche, die Sie an mich zurückschicken.«

Nach einem weiteren Dank und einem weiteren freundlichen Händedruck ging Harriman die Stufen hinunter und schlenderte zum Uber, das mit laufendem Motor am Bordstein stand. Es war bereits später Nachmittag am Silvestertag, und wegen des Urlaubsverkehrs würde es verdammt lange dauern, nach New York in seine Wohnung in der Upper East Side zurückzukommen. Doch das war Harriman egal. Tatsächlich war ihm im Moment fast alles egal – nur nicht der Triumph, den er im Begriff war zu feiern.

Harriman hielt sich an eine altbekannte Maxime, nämlich: Wenn man irgendwelche Stützen der Gesellschaft mit der Botschaft Alles ist entdeckt konfrontiert, ergriffen alle, bis auf den Allerletzten, sofort die Flucht. Hier war Schmutz vonnöten, und niemand – einmal abgesehen von seinem verstorbenen journalistischen Erzfeind Bill Smithback – war besser darin, schmutzige Wäsche zu waschen, als Bryce Harriman.

Seinen großen Durchbruch hatte er kurz nach dem Frühstück erzielt. Er war online gewesen und hatte alte Ausgaben von Zeitungen aus den Vororten Bostons durchforstet, in denen Ozmian aufgewachsen war. Und im Dedham Townsman hatte er gefunden, wonach er gesucht hatte. Vor fast dreißig Jahren war Ozmian wegen Sachbeschädigung der katholischen Kirche »Our Lady of Mercy« in der Bryant Street verhaftet worden. Mehr hatte Harriman zwar nicht ausgraben können, einen einzigen, in einer alten Zeitung versteckten Artikel, doch mehr benötigte er auch nicht. Ein Anruf in Massachusetts ergab dann zwar, dass Ozmian schnell wieder aus der Haft entlassen und die Anklage wegen geringfügigen Vergehens fallen gelassen worden war, aber das schreckte Harriman nicht ab. Um elf saß er im Flieger nach Boston. Um zwei war er in »Our Lady of Mercy« gewesen und hielt eine Liste mit mehreren Personen in Händen, samt Adressen der Personen, die zur Zeit des Zwischenfalls Kirchenmitglieder gewesen waren. Und er hatte nur an drei Türen anklopfen müssen, bevor er jemanden – Giles Sanderton – fand, der sich nicht nur an die damaligen Ereignisse erinnerte, sondern auch noch deren Augenzeuge gewesen war.