»King’s Park war bekannt für seine elektrokonvulsiven Behandlungen.«
»In der Tat – und genau deshalb ist es am Ende geschlossen worden. Aber die Elektroschockbehandlungen – und Schlimmeres! – waren für die geifernden Irren reserviert, für die Unheilbaren und erbärmlichen Elenden. Diesem Schicksal bin ich glücklicherweise entronnen.«
»Und Sie haben sich, wenn ich Sie recht verstehe, selbst geheilt.«
»Ihr sarkastischer Tonfall ist unangenehm, aber ja, in der Tat habe ich das. Eines Tages ist mir klar geworden, dass ich etwas Wichtiges tun muss: mich rächen. Vielleicht der stärkste Anreiz des Menschen überhaupt. Also habe ich mich aufgerappelt, habe mich selbst aus der Versenkung befreit und die gutgläubigen und leicht manipulierbaren Ärzte im Glauben gelassen, sie hätten mich geheilt. Ich nahm mein altes Leben wieder auf. Ich wuchs auf, ging zur Highschool und tat schließlich das, was ich mir vorgenommen hatte – Pater Anselm bestrafen. Der Tod stellte eine allzu große Gnade für diesen Mann dar. Mein Ziel war es, sein restliches Leben mit Elend und Leid zu erfüllen. Und dann bin ich auf die Stanford gegangen, habe meinen Abschluss mit summa cum laude gemacht, DigiFlood gegründet, Milliarden Dollar verdient, wunderschöne Frauen gevögelt, die Welt bereist, ein Leben von unvorstellbarem Luxus und unvorstellbaren Privilegien geführt – kurzum, ich habe all die Dinge getan, die wirklich begabte Menschen wie ich tun.«
»In der Tat«, sagte Pendergast trocken.
»Wie auch immer, um fortzufahren: Nicht lange nach meiner Entlassung wurde King’s Park aufgegeben, geschlossen und dem Verfall überlassen.«
»Wie passend für Sie, dass dies hier der Ort der finalen Jagd sein wird.«
»Ich sehe, Sie kommen allmählich in Stimmung. Sie verstehen sicher, dass diese Erfahrung den Kreis für mich schließen wird. Natürlich kannte ich das Gebäude damals kaum, nur das Zimmer, in dem ich Tag und Nacht unter Drogen gesetzt und fixiert wurde, und das Therapiezimmer, in dem ich meinem Arzt einen Haufen Lügengeschichten aufgetischt habe, die er mir abnahm und sorgfältig niederschrieb. Ich bin im Grunde genauso unvertraut mit dem Ort wie Sie – es wird in der Hinsicht keinen Vorteil für mich geben.«
Ozmian legte die Les Baer auf den Tisch, dazu das Extramagazin, und steckte den Zünder in die Hosentasche. Neben die Les Baer legte er eine Armbanduhr, eine Taschenlampe und ein Stilett.
»Ihre Ausrüstung.« Er stand auf. »Und nun, Agent Pendergast, wollen wir anfangen?«
53
Es war eine bitterkalte Nacht. Kein Lüftchen wehte. Der Vollmond lugte so gerade über die Türmchen von Gebäude 93 und tauchte die Szenerie in ein knochenbleiches Licht. Ausgestattet mit der Tarnkleidung und den weichen Schuhen, die Ozmian ihm aufgedrängt hatte, blieb Agent Pendergast vor der Tür von Gebäude 44 stehen, sein Atem kondensierte in der Nachtluft. Gebäude 93 lag ungefähr hundert Meter entfernt, ein großer schwarzer Keil vor dem mondhellen Himmel, umgeben von einem ramponierten Maschendrahtzaun. Zwischen Pendergast und dem Zaun lag eine weite offene Fläche, bedeckt mit Stoppeln und stellenweise harschigem Schnee, hier und da sah man abgestorbene Bäume und hohle Baumstümpfe. Zur Rechten erhob sich ein von struppigem Unkraut bewachsenes Hügelchen.
Longstreet so brutal enthauptet zu sehen, D’Agosta zusammengeschlagen und gefesselt wie ein Schwein zum Schlachten zu sehen, zu erkennen, dass Ozmian ihn total getäuscht hatte – dieses Grauen stürmte auf Pendergast ein und drohte, ihn schier um den Verstand zu bringen und vor Kummer, Wut und Selbstvorwürfen zu überwältigen. Er atmete tief ein und aus, schloss die Augen, konzentrierte sich und schob die ablenkenden Gedanken beiseite. Eine Minute verstrich, eine kostbare Minute, doch er wusste: Wenn er seinen Fokus und sein inneres Gleichgewicht nicht wiederfand, dann war er mit Sicherheit verloren.
Eine Minute später öffnete er die Augen. Kein Laut war zu hören, das Mondlicht war klar wie Wasser. Jetzt begann er, im Kopf verschiedene Optionen zusammenzustellen, ging mögliche Verläufe seiner Handlungen durch und legte fest, welche der Stränge er weiterverfolgen und welche er verwerfen sollte.
Er kam zu dem Schluss, dass es eine bessere Option gab, als sich geradewegs zu Gebäude 93 zu begeben – und die bestand darin, auf der Stelle in die Offensive zu gehen. Er wollte hart zuschlagen in dem Augenblick, in dem Ozmian Gebäude 44 verließ. Katzenhaft schnell lief Pendergast über den gefrorenen Boden, wobei er darauf achtgab, keine Spur zu hinterlassen, ging um das Gebäude herum und nahm eine rasche Erkundung vor. Es handelte sich um ein zweistöckiges Backsteingebäude, verfallen zwar, aber noch standfest, mit einem Spitzdach. Die Fenster in beiden Stockwerken waren mit von Blechen überzogenen Spanholzplatten versehen und so wirkungsvoll versiegelt, dass keinerlei Licht nach draußen drang. Aus einem dieser Fenster würde man das Gebäude nicht verlassen können.
Während er um die Ecke auf der Rückseite des Gebäudes bog, erblickte er eine rückwärtige Tür. Er fasste die Klinke an und stellte fest, dass die Tür verschlossen war, dann strich er mit einem Finger über die Türangeln und hielt ihn sich unter die Nase. Vor Kurzem geölt. Eine weitere genauere Untersuchung ergab zudem, dass die Angeln erst kürzlich gesäubert worden waren.
Nachdem Pendergast seine Erkundungstour beendet hatte, war ihm klar, dass Gebäude 44 lediglich über zwei Ausgänge verfügte – vorn und hinten. Das Dach war zu steil und exponiert, als dass man darüber entkommen konnte. Das Gebäude stellte einen idealen Ort für einen Hinterhalt dar.
Vielleicht zu ideal. Das Ganze könnte eine Falle sein. Mehr noch: Als er länger darüber nachdachte, begriff er, dass es sich in der Tat um eine Falle handelte. Ozmian rechnete damit, dass er sich zurückhalten und in dem Moment auf Angriff umschalten würde, in dem sein Gegner das Gebäude verließ.
Doch ob nun Falle oder nicht, selbst wenn Pendergast sich dafür entschied, einen der Ausgänge zufällig auszuwählen, verblieb dennoch eine fünfzigprozentige Chance, Ozmian mit einer Kugel zu erwischen. Indem er Ozmians Strategie antizipierte, konnte er die eigenen Erfolgsaussichten erhöhen.
Pendergast durchdachte das Problem bis zu seinem logischen Schluss. Weil Ozmian diese rückwärtige Tür vorher präpariert hatte, hatte er sie als Ausgang aus dem Gebäude vorgesehen, während Pendergast den vorderen Eingang über der Laderampe observierte. Aufgrund dieser Schlussfolgerung müsste Pendergast deshalb die hintere Tür überwachen.
Dennoch könnte sich diese Logik, so komplex sie auch war, als allzu simpel erweisen. Wenn Ozmian wirklich schlau war, dann würde er vorwegnehmen, dass er, Pendergast, die hintere Tür entdecken würde, die frisch geölten Angeln sehen, und daher diesen Ausgang observieren.
Deshalb wird Ozmian das Gebäude durch die vordere Tür verlassen. Es handelte sich hier um einen eindeutigen Fall von umgekehrter Psychologie. Die gut geölte, so sorgfältig präparierte Tür stellte ein Ablenkungsmanöver dar, eine Falle, dazu geschaffen, Pendergast dazu zu verleiten, sich in der Nähe dieser Tür auf die Lauer zu legen.
Noch vier Minuten übrig von seinem Vorsprung.
Pendergast stahl sich erneut um das Gebäude herum zu dessen Vorderseite, denn jetzt war er davon überzeugt, dass Ozmian es hier verlassen würde. Während er den Blick über die gefrorene Landschaft schweifen ließ, entdeckte er eine ausgezeichnete Deckung: eine abgestorbene Eiche, gehüllt in den langen Mondschatten, den Gebäude 93 warf. Er sprintete hinüber zur Eiche, sprang hoch, packte einen niedrigen Ast, schwang sich hinauf, kletterte auf einen höheren Ast und nahm, versteckt hinter dem Stamm, eine hockende Stellung ein. Dann zückte er seine Les Baer, deren kaltes Gewicht ihm ein Gefühl von Sicherheit verlieh. Schließlich drückte er sich gegen den Stamm und nahm die Laderampe an der Vorderseite des Gebäudes ins Visier.