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Das Betreten von Gebäude 93 nach all den Jahren hatte bei Ozmian überraschend tief reichende Gefühlsreaktionen ausgelöst. Zwar war die Erinnerung an jene Zeit fast völlig verblasst, doch als er die Cafeteria betrat, war der unterschwellige Geruch des Ortes noch immer da gewesen und hatte einen unerwarteten Ansturm von Erinnerungen an jene furchtbare Zeit in seinem Leben ausgelöst. So intensiv war die Flut der Erinnerungen – die sadistischen Pfleger, die vor sich hin brabbelnden Mitpatienten, die lügenden, lächelnden Psychiater –, dass Ozmian taumelte, als die Vergangenheit auf diese fürchterliche Art in die Gegenwart eindrang. Aber nur einen Augenblick lang. Mit ungeheurer Willensanstrengung drängte er die Erinnerungen zurück in den Bunker seines Gedächtnisses und konzentrierte sich erneut auf die Pirsch. Die damalige Erfahrung hatte ihm eine jähe Erkenntnis geschenkt. Er hatte diesen Ort ausgewählt als eine Art Exorzismus, als eine Möglichkeit, die Geister jener Zeit ein für allemal zu vertreiben.

Im Dunkeln, während er immer noch lauschte und die zurückweichenden Schritte zählte, ordnete Ozmian seine Gedanken. Bislang war er ein bisschen enttäuscht von dem Fortgang der Jagd und der mangelnden Cleverness seines Jagdwilds. Andererseits stellte die Art, wie Pendergast vom Baum heruntergesprungen war, gerade als er geschossen hatte, eine beeindruckend sportliche Aktion dar, auch wenn es unbefriedigend war, ihn gleich zu Beginn an einem solch vorhersehbaren Ort vorzufinden.

Ozmian spürte, dass die Ressourcen des Mannes erst noch ausgeschöpft werden mussten. Und dieser Gedanke erregte ihn. Er vertraute darauf, dass sein Jagdwild so schlau war, ihm eine ordentliche, vielleicht sogar ausgedehnte Pirsch zu bescheren, eine, die ihn für seine Mühen und Schwierigkeiten entschädigen würde.

Schließlich verklangen die äußerst leisen Schritte: Das Jagdwild hatte auf einem der Stockwerke das Treppenhaus verlassen. Ozmian würde also erst wissen, auf welcher Etage genau, wenn er die Schritte zwischen dem Erdgeschoss und dem ersten Stock gezählt und im Kopf eine rasche Division vorgenommen hatte.

Jetzt begann auch er, die Treppe hinaufzusteigen. Dabei bewegte er sich behende und leise, aber nicht allzu schnell. Als er die erste Etage erreichte, konnte er ausrechnen, dass sein Jagdwild, das zwei Stufen auf einmal genommen hatte, im neunten Stock das Treppenhaus verlassen hatte. Das oberste Stockwerk wäre das naheliegendste gewesen, aber das achte ergab mehr Sinn, da dieses seiner Beute zusätzliche Fluchtwege bot. Während Ozmian die Treppe weiter hinaufstieg, spürte er, dass er sich noch nie so lebendig gefühlt hatte. Dieser Nervenkitzel der Jagd, das war eine atavistische Lust, die nur ein echter Jäger wertschätzen konnte, etwas, das in die menschliche DNA eingeschrieben war: diese Liebe zur Pirsch, zum Verfolgen, zum Jagen und zum Töten.

Und zum Töten. Ozmian verspürte ein leises Zittern der Erwartung. Er erinnerte sich, wie er zum ersten Mal ein Großwild getötet hatte. Es war ein Löwe gewesen, ein großes Männchen mit schwarzer Mähne, das er mit einem schlecht gezielten Schuss verletzt hatte. Der Löwe war geflohen, und weil er ihn verwundet hatte, trug er die Verantwortung, ihn aufzuspüren und zu erlegen. Sie folgten ihm bis ins Elefantengras, sein Waffenträger wurde immer nervöser und rechnete jeden Augenblick mit dem Angriff des Löwen. Doch dieser griff nicht an, und die Spur führte sie in noch unzugänglicheres Gelände, in dichten Busch. Hier weigerte sich der Träger weiterzugehen, und so hatte Ozmian das Gewehr genommen und war in eine dichte Gruppe Mopane vorgerückt. Und da überkam ihn mit einem Mal dieses unverkennbare, kribbelnde Gefühl, und er kniete sich hin, das Gewehr im Anschlag. Der Löwe sprang auf und kam auf ihn zu wie ein Expresszug; er gab einen einzigen Schuss ab, der in das linke Auge eindrang und seinen Hinterkopf wegriss. Gleichzeitig sackte der Löwe – 250 Kilo Muskeln – über ihm zusammen. Ozmian erinnerte sich dieses ekstatischen Gefühls, das Wild erlegt zu haben, während er wie festgenagelt und mit gebrochenem Arm am Boden lag, und das Blut des Löwen, der warm und stinkend auf ihm lag und von Käfern und Fliegen wimmelte, über ihn hinwegrann.

Doch im Lauf der Zeit war es immer schwieriger geworden, so etwas zu erleben – bis er zurückgekehrt war und schließlich damit angefangen hatte, Menschen zu jagen. Er hoffte nur, dass er diesen hier nicht allzu bald erlegen würde.

Im achten Stock schaltete er kurz die Taschenlampe ein, inspizierte die Treppenstufen und entdeckte zu seiner Freude die Spur seiner Beute. Und im neunten Stock bestätigte eine weitere kurze Untersuchung, was er sich bereits gedacht hatte – das Wild hatte das Treppenhaus verlassen und war den langen Flur des Ostflügels hinuntergegangen.

Ozmian blieb auf dem Treppenabsatz stehen, hielt den Atem an und horchte. Hier oben wehte ein kalter Wind, klagend pfiff er um das Gebäude, was eine Klangschicht hinzufügte, die die leiseren Geräusche seiner Bewegungen überdeckte. Vorsichtig ging er zum Rand des Durchbruchs, der in den Gang führte, wo eine Stahltür schräg in ihren rostigen Angeln hing, und spähte durch den Spalt zwischen Tür und Türrahmen, der ihm einen Blick den Gang hinunter erlaubte. Der Notausgang, der diesen Gebäudeflügel absperrte und die Patienten nachts einkerkerte, war vor langer Zeit von Stadterkundern herausgerissen worden und lag zerbrochen auf dem Fußboden. Fahles Mondlicht fiel in den Gang und spendete gerade so viel Licht, dass man etwas erkennen konnte. Der Gang erstreckte sich durch den gesamten Ostflügel und endete vor einem weit entfernten Fenster, in dem groteskerweise eine verwelkte Topfpflanze stand. Ein zerfetzter Vorhang flatterte im Wind wie eine weiße winkende Hand. Auf beiden Seiten befanden sich Türen, sie führten in die winzigen Zellen, an die er sich so deutlich erinnerte, im Grunde nichts weiter als Gefängniszellen, jede mit eigenem Bad und WC. Er erinnerte sich, dass seine Zelle, so wie diese, gepolstert gewesen war, die Wände befleckt mit dem Schmutz, dem Nasenschleim und den Tränen ihrer einstigen Insassen.

Schnell unterdrückte er den erneuten Schock der Erinnerung.

Ozmian bewegte sich unendlich leise und behutsam – für den Fall, dass sein Wild wieder einen Hinterhalt gelegt hatte –, schlüpfte in die Schatten und schlich mit dem Rücken zur Wand die dunkle Seite des Gangs entlang. Er traute sich, mit der Taschenlampe ganz kurz auf den Boden zu leuchten, wo er unter den anderen erneut die frische Fährte seines Jagdwilds ausmachte, die auf das andere Ende des Gebäudeflügels zusteuerte. So wie er, hatte auch Pendergast die Schuhe ausgezogen, um beim Gehen nicht so viele Geräusche zu machen.

Mit der Waffe in der Hand, an der Wand entlanggehend, setzte Ozmian die Pirsch fort. Am Ende des Flurs sah er, dass Pendergasts Fußabdrücke in eines der Zimmer abbogen. Und die Tür war geschlossen. Erstaunlich, dass er das hinbekommen hatte, ohne Lärm zu machen.

Interessant. Der Mann hatte sich gar nicht bemüht, seine Spuren zu verwischen, obwohl er doch wusste, dass er, Ozmian, hinter ihm her war. Das alles bedeutete, dass Pendergast einen Plan hatte, höchstwahrscheinlich wollte er ihn abermals in einen Hinterhalt locken. Aber was für einen? Vermutlich einen, der selbst im Fall des Scheiterns das Blatt wenden und den Verfolgten zum Verfolger machen würde.

Ozmian verharrte kurz vor der geschlossenen Tür, dann trat er einen Schritt zurück. Die Tür war aus Metall und offenbar so massiv, dass sie selbst der irrwitzigsten Attacke widerstehen konnte, auch wenn die Angeln inzwischen korrodiert und kaputt waren und die Schrauben aus dem Metall hervorragten. Aber er wusste ja, dass man diese Tür nicht von innen abschließen konnte, nur von außen.

Er legte die Hand auf den Türknauf – dabei hielt er sich weit außerhalb der einen Seite der Schusslinie –, drehte ihn und rechnete damit, dass im nächsten Augenblick ein Kugelhagel die Tür durchsieben würde.

Nichts. Er schob die Tür auf. Dabei hielt er sich weiterhin an der einen Seite. Und dann zückte er seine Handfeuerwaffe, drehte sich mit einer blitzartigen Bewegung ins Zimmer und suchte es ab, wobei er sich schräg durch den kleinen Raum bewegte, der bis auf ein Bett mit einer Matratze, einem WC und einem zerlumpten Teddybären auf dem Boden leer war. Die Fensterscheibe fehlte, sodass nur ein leerer Rahmen übrig geblieben war. Mondlicht schien ins Zimmer, ein eisiger Wind wehte herein, die öde Landschaft draußen erstreckte sich bis zum fernen Long Island Sound.