Pendergast lief den Flur entlang und stürmte das Treppenhaus hinunter, entschlossen, eine möglichst große Distanz zwischen Ozmian und sich zu bringen. Da er schneller laufen konnte als Ozmian ihn verfolgen, war es von entscheidender Bedeutung, eine lange Spur zu legen und sich einen noch größeren Zeitvorsprung zu verschaffen. Er verließ das Treppenhaus und lief durch mehrere dunkle Gänge, Treppen hinauf und dann hinab, von einem Stockwerk zum nächsten, um so seinen Gegner vor ein Problem zu stellen, nämlich einer langen, ziellosen, labyrinthartigen Fährte zu folgen.
Im Laufen unternahm Pendergast enorme Anstrengungen, das für ihn untypische Gefühl der Verzweiflung zu unterdrücken. Obwohl er vorausgesehen hatte, dass er eine zweite Chance bekommen würde, war er inzwischen zweimal überlistet worden. Er mochte zwar Einblick in die Psyche seines Gegners erhalten haben, aber wie konnte er das für sich nutzen? Sein grundlegender Fehler hatte, wie er erkannte, in der Annahme bestanden, dass er Ozmians Spiel mitspielen und ihn darin schlagen konnte; dass er, was verstandesmäßiges Reflektieren betraf, seinen Gegner übertreffen konnte. Er spielte eine Partie Schach gegen einen Großmeister, und mittlerweile war ihm klar – nach der Hälfte der Partie und auf fatale Weise an Figuren unterlegen –, dass er mit Sicherheit verlieren würde.
Es sei denn …
Es sei denn, er veränderte das Spiel komplett. Ja mehr noch: wechselte von der Partie Schach zu einer Partie … Craps. Einem Würfel-, einem Glücksspiel.
Pendergast erinnerte sich, bemerkt zu haben, als er sich Gebäude 93 näherte, dass der Westflügel teilweise abgebrannt und instabil war. Dies wäre ein Umfeld, das eben jene unberechenbaren Umstände bieten würde, die er anstrebte.
Seine unregelmäßige Flucht führte Pendergast in einen großen Raum. Dort blieb er stehen, um zu verschnaufen und über den nächsten Schritt nachzudenken. Er befand sich irgendwo im hinteren Teil des Krankenhauses, wieder im Erdgeschoss. Und während er um sich blickte, wurde ihm klar, dass er sich in einer Art Handarbeitsraum beziehungsweise Werkstatt befand. Auf einem langen Tisch aus Kunststoff lagen hier und da halb fertige Arbeiten, die Zeit und Ratten hatten sie verwüstet. Rasch suchte er den Raum nach etwas Nützlichem ab. Auf einem kleinen Webstuhl lag ein verrottetes Weberschiffchen; an ein Korkbrett waren kindische Aquarelle gepinnt; auf einem Tisch lagen geschrumpfte Klumpen Modellierlehm, halb geformt zu grotesken Formen, auf einem anderen verbogene Plastikstricknadeln mit halb beendeten Schals. Am gegenüberliegenden Ende des Raums umstanden mehrere Stühle ein klobiges 1950er-Fernsehgerät, die Bildröhre explodiert und in Scherben auf dem Boden liegend.
Pendergast nahm mehrere halb zu Ende gestrickte Schals in die Hand, zog die Stricknadeln heraus und band sich die Schals um die Füße. Im Weitergehen konnte er in der Spur, die er hinterlassen hatte, eine Verbesserung erkennen: Die Fährte war noch schwach sichtbar, zwischen den Abdrücken früherer Besucher jedoch schwer zu lesen. Jedoch machte er sich keine Illusionen: Ozmian war sicherlich in der Lage, auch dieser Spur zu folgen, auch wenn das größere Aufmerksamkeit erfordern würde. Dadurch konnte Pendergast ein wenig Zeit gewinnen.
Jetzt ging er in westliche Richtung, auf den zerstörten Gebäudeflügel zu, wobei er so behutsam wie möglich auftrat. Während er ein Zimmer nach dem anderen passierte, einen Gang nach dem anderen, eine Biegung nach der anderen, wurde der beißende Geruch des ehemaligen Brandes immer stärker. Und als er dann durch eine Küche ging, gelangte er auf einen Flur, der unverkennbar in den abgebrannten Gebäudeflügel führte. Mittlerweile befand er sich so weit entfernt von Ozmian, dass er seine Taschenlampe einsetzen konnte. Er schaltete sie ein und richtete den Lichtstrahl auf das rauchgeschwärzte Innere.
Was er dort sah, ließ ihn stutzen. Die Wände waren schief und krumm, manche teilweise eingestürzt. Die Decken waren heruntergekommen und hatten Haufen verkohlter Holzbalken und aufgeplatzte Betonpfeiler zurückgelassen, aus denen verbogene Gewirre von Bewehrungsstäben ragten. Und das war nur der erste Stock, acht Stockwerke waren darübergestapelt, kaum aufrecht gehalten von diesen instabilen Mauern. Während Pendergast die Schäden in Augenschein nahm, wurde ihm klar, dass das Feuer nicht sehr lange zurücklag – vermutlich hatte es hier erst im vergangenen Jahr gebrannt.
An eine Mauer in der Nähe war ein selbst gemachtes Schild, vollgeschrieben mit Silbermarker auf einem angekohlten Stück Sperrholz, genagelt worden.
Seid gegrüßt, Urbexer-Freunde!
Hört zu, Leute: Wenn ihr glaubt, dass die Erkundung von Gebäudeflügel D eine einzigartige Herausforderung bereithält, denkt noch mal nach. Dieser Ort ist echt gefährlich. Wenn irgendwer hier drin umkommt, wirkt sich das auf den Zugang von uns allen aus. Genießt also bitte den Rest von Gebäude 93. Aber haltet euch fern von Flügel D. Denkt an die unsterblichen Worte des größten Urbexers von allen:
Ihr, die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren.
Nach kurzem Zögern betrat Pendergast das dunkle, übel riechende Labyrinth.
60
Ozmian ließ sich Zeit, während er der Fährte folgte, und genoss die Pirsch in vollen Zügen. Er hatte es nicht eilig. Die Zeit arbeitete für ihn. Zwar hatte ihn sein Wild bislang enttäuscht, doch Pendergast war schlau und gefährlich, und es wäre verhängnisvoll, ihn zu unterschätzen. Und er lernte. Er wurde besser.
Die lange, mäandernde Verfolgungsjagd führte ihn schließlich zu dem Handarbeitsraum. Merkwürdigerweise hatte er keine Erinnerung an diesen Raum, auch nicht daran, dass er während seiner Zeit im King’s Park ein Handwerk ausgeübt hatte. Wie auch immer, der Raum war höchst beunruhigend – noch immer lagen auf den Tischen die letzten unvollendeten Arbeitsvorhaben der Patienten – halb gestrickte Schals, Lehmköpfe, furchtbare Aquarelle, die jämmerlichen Hervorbringungen missgestalteter Hirne. Die Fährte führte am Tisch mit den Schals vorbei, und sofort ahnte Ozmian, was passiert war: Pendergast hatte sich ein paar der Schals geschnappt und sich um die Füße gewickelt, um so eine schwächere, diffusere Fährte zu hinterlassen.
Ein kluger Schritt.
Von diesem Punkt an wurde es schwerer, der Fährte zu folgen, es erforderte häufige Pausen, wenn sie sich mit den Spuren früherer Urbexer kreuzte. Ozmian ging weiter den Gang entlang, in mehrere Räume hinein und hinaus. Mit diesem Ablenkungsmanöver verschaffte sich Pendergast Zeit, verlangsamte die Pirsch. Er plante eine Art Falle oder einen Hinterhalt – einen, den zu stellen Zeit kosten würde.
Die Fährte führte insgesamt in westlicher Richtung, zum Gebäudeflügel D, wobei sich Ozmian fragte, ob Pendergast wohl auf diesen zusteuerte. Das wäre eine eher unerwartete Maßnahme.
Nachdem Ozmian erneut mehrere Minuten lang die Fährte gelesen hatte, gelangte er tatsächlich in den Bereich, der gebrannt hatte. An diesem Punkt, wo die Spur in die Trümmer und den Schutt führte, inspizierte er diese eingehend mit seiner Taschenlampe. Es könnte sich hier um ein Ablenkungsmanöver handeln, den Versuch, ihn in diesen gefahrvollen Bereich zu locken, doch ein genauerer Blick enthüllte, dass Pendergast tatsächlich den instabilen Gebäudeflügel betreten hatte. Es gab keine Möglichkeit, das vorzutäuschen. Er war dort drin – irgendwo.