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Er musste aus dem Staub und den herabstürzenden Trümmern ins Freie gelangen, wo er das Chaos nutzen und Ozmian angreifen konnte – sofern dieser überlebt hatte. Nachdem sich Pendergast durch die herabgestürzten Trümmerteile vorangetastet, sich aus dieser Zone entfernt hatte, erschien er aus der lichter werdenden Staubwolke im Mondlicht, dicht vor dem Maschendrahtzaun, der das Gebäude umgab.

Und da entdeckte er Ozmian, unverletzt, auf halber Höhe der beschädigten Fassade. Schnell ließ er sich aus der klaffenden Ruine an einem Feuerwehrschlauch herunter, gleichzeitig sah er Pendergast. Pendergast sank auf ein Knie, zielte und schoss, doch da stieß sich Ozmian vom Gebäude ab und schwang zur Seite, noch bevor Pendergast einen weiteren Schuss abgeben konnte. Ozmian hatte den Schlauch losgelassen und war in die Staubwolke gestürzt, sodass er außer Sicht geriet.

Schnell gab Pendergast vier Schüsse hintereinander in die Wolke ab, in einem Muster, das den Ort umkreiste, wo seiner Einschätzung nach Ozmian auf dem Boden gelandet war. Pendergast wusste, dass er wohl kaum einen Treffer landen konnte, nutzte aber auch diese geringe Chance und schoss sein Magazin leer.

Er rannte los, ignorierte dabei seine Schmerzen, sprintete die Außenmauer des Gebäudes entlang und sprang über einen niedrigen Fenstersims ins Gebäude, dann lief er weiter einen Gang entlang, der wiederum in den Handarbeitsraum mündete. Im Laufen ließ er das leere Magazin herausschnellen. Klappernd fiel es zu Boden; er schob das zweite Magazin hinein, lief an den verrotteten Tischen vorbei, durch eine Tür und stürmte ein Treppenhaus in der Nähe hinunter, Richtung Keller.

Er wusste zwar nicht, ob die vier Schüsse Ozmian erwischt hatten, musste aber davon ausgehen, dass dies nicht der Fall war. Damit war sein dritter Plan gescheitert. Er brauchte einen vierten.

62

Vorsichtig trat Ozmian aus dem Geröll. Dabei blieb er in Deckung. Die Schüsse, die Pendergast in die Staubwolke abgegeben hatte, hatten ihn ernsthaft beunruhigt, denn weil sie wahllos abgefeuert worden waren, hatte er sie nicht antizipieren können. Ein Schuss war ihm derart nahe gekommen, dass er den Windzug verspürt hatte, als ihm die Kugel am Ohr vorbeizischte. Zum ersten Mal war Ozmian ein bisschen verunsichert. Doch er schüttelte das Gefühl schnell wieder ab. War das hier denn nicht genau das, was er sich am meisten gewünscht hatte – einen in höchstem Maße gerissenen, fähigen Gegner? Tief im Inneren wusste er, dass er siegen würde.

Er lief am zerstörten Ende des Gebäudes entlang, dort, wo die Ecke des Gebäudeflügels D eingestürzt war. Dabei blieb er im Dunkeln und in dem wuchernden Pflanzenbewuchs an den Rändern des aufgelassenen Gebäudes. Er schaltete seine Taschenlampe ein und suchte den Boden nach Anzeichen von Pendergast ab, konnte aber nichts erkennen. Als Ozmian zu einem kaputten Fensterrahmen gelangte, kundschaftete er schnell den Raum aus, sprang hinein und ging dann weiter einen leeren Gang entlang. Die Spuren dort waren alt, und wieder konnte er keinerlei Hinweise auf Pendergast erkennen.

Er musste die Fährte seines Jagdwilds finden. Das bedeutete, ein Manöver auszuführen, das als »die Fährte lesen« bekannt war – sich in einem weiten Kreis im rechten Winkel zur Spur des Jagdwilds bewegen und versuchen, diese aufzunehmen.

Als er das Ende des Gangs erreicht hatte, ging er einen weiteren Gang entlang, »las die Fährte«, wobei er damit rechnete, im nächsten Augenblick auf Hinweise von Pendergasts Spur zu stoßen.

Im Keller durchquerte Pendergast das Gebäude auf fast ganzer Länge. Dabei kam er an einer Heizungsanlage vorbei, an Lagerräumen, einem kleinen Bereich mit Gummizellen, bis er sich schließlich in einem riesigen Archiv voll mit verrotteten Akten befand. Hier unten war es stockdunkel, sodass ihm nichts anderes übrig blieb, als die Taschenlampe einzusetzen. Trotz all der Dinge, an denen er vorbeigekommen war, hatte er nichts gefunden, auch keinen Ort, der ihm dabei helfen könnte, zu entkommen und den Spieß umzudrehen: den Verfolger zu verfolgen. Es hatte etwas Törichtes, wenn nichts Aussichtsloses, diese Farce fortzusetzen – aufs Geratewohl durch dieses riesige Gebäude zu laufen, in der Hoffnung auf eine neue Idee. Er hatte es mit einem Wilden zu tun, einem Mann, der nicht zu besiegen war. Und doch, niemand war unschlagbar, jeder Mensch besaß eine offene Flanke. Inzwischen hatte Pendergast einen gewissen Einblick in Ozmians Denken und Fühlen gewonnen, in seine Verletzlichkeit, doch wie konnte er das zu seinem Vorteil nutzen? Wo befanden sich die feinen Risse in Ozmians Panzer, und wie – sollte er diese finden – sollte er das Schwert dort hineinbohren? Ozmian war wohl der komplexeste und einfallsreichste Gegner, der ihm je begegnet war. »Kenne deinen Feind«, so lautete das wichtigste Diktum in Sun Tzus Die Kunst des Krieges. Wobei der Satz auch schon die naheliegende Antwort mitlieferte: Wenn es in der ganzen Welt einen Ort gab, an dem er diesen Mann und seine abgründigsten Schwächen kennenlernen konnte, dann genau hier, im Keller, in den Archiven.

Pendergast verharrte kurz, konzentrierte seine Gedanken und nahm die riesigen Räumlichkeiten mittels der Taschenlampe in Augenschein. Es war geradezu unheimlich, dass er hier war, in diesem immensen Raum voller Geschichten des Wahnsinns, des Elends und des Grauens, das Archiv eines gigantischen Irrenhauses. Jetzt begriff er, dass sein eigenes Unbewusstes ihn hierhergeführt hatte.

Das Archiv bestand aus Reihen von Aktenschränken in Metallregalen, die vom Boden bis zur Decke reichten. Jeder Gang wies zwei Rollleitern auf, die erforderlich waren, um an die oberen Aktenschränke heranzukommen. Während Pendergast durch den Raum lief und zu verstehen versuchte, wie dieser organisiert war, wurde ihm klar, dass das Krankenhaus in dem Jahrhundert, in dem es in Betrieb gewesen war, eine atemberaubende Menge an Daten im Form von Patientengeschichten, Krankenberichten, Diktafonaufzeichnungen, Diagnosen, Korrespondenzen, Personalakten und juristischen Schriftstücken angehäuft hatte. Im Lauf seiner Existenz hatte die Klinik Zehntausende psychisch gestörter Patienten aufgenommen, vielleicht Hunderttausende; die Zahlen bestätigten nur Pendergasts Überzeugung, dass es eine riesige Anzahl geisteskranker Menschen auf der Welt gab. Wenn überhaupt, dachte er, fällt das Archiv angesichts des kollektiven Wahnsinns der Menschheit noch recht bescheiden aus.

Die Gänge und Reihen waren rasterförmig angelegt, die Gänge mit Buchstaben gekennzeichnet und die Reihen mit Zahlen. Nachdem Pendergast mehrere Gänge entlanggegangen war und die Nummern und Zahlen gelesen hatte, fand er, wonach er suchte, packte eine der Rollleitern, schob sie an den richtigen Platz und stieg, die Taschenlampe zwischen den Zähnen, hinauf. Er riss ein Schubfach auf, durchwühlte es, gelangte an die Rückseite, dann öffnete er noch eines und noch eines, zog Akten daraus hervor und warf sie auf den Boden, bis ihm klar wurde, dass das, wonach er suchte, einfach nicht vorhanden war.

Er stieg die Leiter hinunter, verharrte kurz, um seine Lage neu zu überdenken, dann ging er den Gang entlang zu einer anderen Stelle und öffnete erneut Reihen von Schubfächern. Das Quietschen rostigen Metalls hallte von den Wänden, und Pendergast war sich nur zu deutlich bewusst, dass der Lichtschein seiner Taschenlampe ein perfektes Ziel abgab. Er musste diese Suche beenden, bevor Ozmian seine Spur aufnahm und den Raum betrat.

Pendergast ging zum nächsten Gang, dann zum übernächsten. Die Zeit lief ihm davon. In einer Schublade fand er unerwarteterweise mehrere Seiten zusammengerollter Baupläne in verkleinertem Maßstab. Er blätterte darin, zog einen der Pläne heraus und steckte ihn sich hinter den Hosenbund. Nützlich, aber nicht das, wonach er suchte. Er setzte seine Suche fort.