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Ozmian hatte in der Hälfte des Erdgeschosses des Gebäudes die Fährten gelesen, von einer Seite zur anderen, aber vergeblich. Doch jetzt, während er sich zum Treppenhaus begab und im Begriff war, in den ersten Stock hinaufzusteigen, traf er schließlich auf Pendergasts Spur. Eine erstaunlich schwache Fährte – Pendergast hatte sich sehr vorsichtig bewegt –, aber es war nicht möglich, sie völlig auszulöschen, vor allem dann nicht, wenn man ein solch scharfes Sehvermögen wie Ozmian besaß. Zu seiner Verwunderung führten die Spuren jedoch nicht nach oben, sondern nach unten … ins Kellergeschoss.

Ozmian war stolz auf sich und überaus zufrieden. Er war noch nie im Kellergeschoss gewesen und hatte keine Ahnung, was sich dort unten befand, aber er war sich sicher, dass die labyrinthartigen Räume und die völlige Dunkelheit ihm Vorteile verschaffen würden, für Pendergast dagegen eine Sackgasse bedeuteten. Zudem blieb ihm ein alles überragender Vorteil erhalten: Er befand sich in der Offensive und sein Jagdwild in fortwährendem Rückzug.

Er ging im Treppenhaus hinab ins Dunkel. Dabei strich er mit einer Hand an der Wand entlang und bewegte sich vorsichtig und leise, das Herz laut schlagend in Erwartung des Bevorstehenden.

Pendergast hatte an allen naheliegenden Orten gesucht, ohne zu finden, was er benötigte. Natürlich hatte er es nicht gefunden, dachte er verbittert, es ist ja nicht mehr vorhanden. Die Archivunterlagen waren bereits vor Jahren entfernt worden. Einer wie Ozmian würde solch einen Zündstoff nicht herumliegen lassen, auch nicht in einem vermodernden und aufgelassenen Archiv. Er hätte jemanden hineingeschickt, um die Akte zu finden und zu vernichten.

Pendergasts Suche hatte die Ordnung des Archivs enthüllt, und jetzt kam ihm in den Sinn, dass es damals, als dieser Teil des King’s Park schließlich wegen Missständen und Misshandlungen gerichtlich untersucht und in der Folge geschlossen wurde, zusätzliche Akten gegeben hatte, die unentdeckt geblieben waren. Diese würde man logischerweise ganz am Ende finden, statt am normalen, nach Alphabet und Datum sortierten Platz. Schnell ging Pendergast zur letzten Reihe der Aktenschränke, in die entlegenste Ecke des Archivs. Obwohl immer noch von Rost, Spinnweben und Mehltau überzogen, waren diese Archivschränke etwas jüngeren Datums und von einem anderen Modell. Auch waren die Schubfächer anders beschriftet. Offenkundig befanden sich die Akten darin außerhalb des alten, schon vorher eingerichteten Archivierungssystems. Nach kurzer Suche stieß er auf ein Schubfach mit der Aufschrift:

Nur für den Dienstgebrauch

Untersuchungen/Berichte/Personalbeschwerden

Aktenschränke sind stets abzuschließen

Die Schublade war abgeschlossen, aber mit einer scharfen Drehung seines Messers brach er das billige Schloss auf. Nachdem er das Schubfach unter erneutem lautem Quietschen rostigen Metalls aufgezogen hatte, durchstöberte er den Inhalt, wobei seine schlanken Finger förmlich über die Aktenreiter flogen und dabei kleine Staubwölkchen aufwirbelten. Pendergast hielt inne und ergriff eine dicke Akte, an deren Außenseite ein Blatt Papier mit einer Büroklammer befestigt war. Plötzlich ging er in die Hocke, schaltete die Taschenlampe aus und lauschte. Beim Betreten des Archivs hatte er die rostige Tür am anderen Ende des Raums geschlossen. Die Tür hatte sich knarrend geöffnet.

Ozmian war eingetroffen.

Eine Katastrophe. Er würde einfach nicht die Zeit haben, die er brauchte. Trotzdem erhob er sich, äußerst vorsichtig und mit ausgeschalteter Taschenlampe, und ging, sich an den Schränken entlangtastend, im Stockdunkeln in Richtung Hintereingang. Nach einer kurzen Strecke über eine offene Fläche gelangte er zur Betonschalsteinaußenwand des Archivraums, der er wiederum nach Gefühl folgte. Irgendwo in dieser Wand befand sich eine geschlossene Tür, und er war nicht weit entfernt davon. Er wartete und lauschte angestrengt. Hörte er da das leise Knirschen von Schritten auf Splitt? Wieder drang ein leises Geräusch zu ihm, fast am Rande der Hörbarkeit, dann noch eines. Ozmian pirschte sich im Dunkeln an.

Pendergast griff nach der Les Baer und wartete. Wenn er auf das Geräusch schoss, würde er vermutlich danebenschießen, und der Mündungsblitz würde Ozmian ein Ziel liefern, sodass er das Feuer erwidern konnte. Das Risiko war zu groß. Ozmian hatte mit Sicherheit gehört, wie er den letzten Schrank geöffnet hatte, er wusste, dass sich Pendergast im Raum befand, aber vermutlich nicht, wo genau.

Regungslos, kaum atmend blieb Pendergast an der Wand stehen. Wieder das leise Knirschen eines Schritts. Dieser war näher. Pendergast hätte einen Schuss wagen können, so riskant das auch wäre. Er richtete die Waffe in die Dunkelheit, legte den Finger an den Abzug und wartete auf das nächste Geräusch. Und dann kam es näher – das leise Knirschen von Staub, der von einem Schuh zusammengedrückt wird.

Kurz hintereinander gab Pendergast zwei Schüsse ab. Gleichzeitig hechtete er zur Seite, und der doppelte Mündungsblitz erhellte Ozmian, der knapp fünfundzwanzig Meter weiter hinten im Gang stand. Ozmian erwiderte sofort das Feuer, aber die Kugeln bohrten sich in die Wand über dem liegenden Pendergast, sodass etliche kleine Betonstücke auf ihn herabrieselten. In das Dunkel hinein gab er fünf weitere Schüsse auf Ozmians letzten Standort ab. Dabei platzierte er diese in Vorwegnahme der möglichen Wege, die Ozmian möglicherweise einschlug – doch jeder Mündungsblitz zeigte Ozmian dort, wohin Pendergast nicht gezielt hatte, selbst als Ozmian das Feuer erwiderte, sodass Pendergast hinter der nächsten Reihe von Schränken in Deckung ging. Während die Schüsse in dem höhlenartigen Raum laut hallten und widerhallten, nutzte Pendergast die Gelegenheit, im Dunkeln den Gang entlangzuspurten. Durch Herumtasten fand er eine Reihe mit Aktenschränken und lief wiederum an dieser entlang, dann bog er in eine weitere Reihe und noch eine, bevor er stehen blieb. Er ging in die Hocke und verschnaufte, dann wurde es wieder still. Erneut bewegte er sich ganz vorsichtig und begab sich in weitem Bogen zurück zum Hintereingang, wobei er sich den Weg ertastete. Binnen Minuten hatte er die Tür gefunden, schob sie knarrend auf, trat hindurch und schlug sie hinter sich zu, während er noch hörte, wie Ozmian auf das Geräusch schoss und eine Kugel auf die dicke Metalltür traf, sie aber nicht durchschlug. Die Tür verfügte über einen Riegel, den Pendergast vorlegte; das würde ihm zumindest ein paar weitere Minuten Luft verschaffen, in denen er das Erforderliche tun konnte.

Er schaltete die Taschenlampe ein und blätterte rasch die eingesammelten Krankenakten durch, Seite um Seite, bis er bei einer besonderen Akte innehielt. Er zog sie heraus, steckte sie ein, warf einen Blick auf die Baupläne … und dann ging er weiter den Gang entlang, wobei er nicht einmal darauf achtete, leise aufzutreten. Am anderen Ende gelangte er zu einer kleinen grünen Tür, die er aufstieß, dann hinter sich schloss und verschloss, noch während er hörte, wie Ozmian die Tür zum Archiv zu überwinden versuchte.

Er hatte viel zu tun, um sich gebührend auf Ozmians Ankunft vorzubereiten.

63

Ozmian stand an der Tür und schaltete die Taschenlampe ein. Es handelte sich um eine stark gepanzerte Stahltür, wie sie erforderlich war, um dieses einstige Archiv mit seinen sensiblen Daten zu schützen. Als er das Schloss inspizierte, sah er, dass es nur eine Möglichkeit gab: Er musste es mit Schüssen knacken, auch wenn er dabei Kugeln vergeudete, die womöglich noch nötig sein würden.

Er ließ das mittlerweile leere Magazin herausschnellen, steckte das zweite hinein, dann stellte er sich auf und zielte mit beiden Händen auf den Zylinder, wobei er darauf achtete, seinen Herzschlag zu verlangsamen. Wieder hatte das Jagdwild mehrere Kugeln abgefeuert, die seinen Kopf um Haaresbreite verfehlten. Die Salve ängstigte ihn, aber sie bedeutete auch – wenn seine Zählung stimmte –, dass Pendergast von den acht Kugeln nur noch eine übrig hatte. Er glaubte, dass Pendergast mittlerweile vollends auf der Flucht war und ihm die Optionen ausgegangen waren. Ein Hinterhalt mit nur einem Schuss grenzte an Selbstmord. Ozmian schaute auf seine Uhr: noch zwanzig Minuten, dann war Pendergasts Kumpel D’Agosta nichts weiter als ein Fleischklops an der Wand von Gebäude 44. Kein Wunder, dass Pendergast durchdrehte.