Das hier konnte nichts Gutes bedeuten.
Er holte tief Luft, klopfte an.
»Herein«, ertönte Petowskis Stimme.
Diesmal war Petowski die einzige Person im Raum. Er saß hinter seinem Schreibtisch, schaukelte im Stuhl vor und zurück und fummelte mit einem Bleistift herum. Er schaute Harriman eine Minute lang an, dann blickte er wieder hinunter auf den Bleistift. Er bot dem Reporter keinen Stuhl an.
»Haben Sie das über die Pressekonferenz gelesen, die das NYPD heute Vormittag gegeben hat?«, fragte er, immer noch hin und her schaukelnd. Vor und zurück.
»Ja.«
»Dieser Mörder – der Enthaupter, wie Sie ihn genannt haben – war, wie sich herausgestellt hat, der Vater des ersten Opfers. Anton Ozmian.«
Harriman schluckt erneut, schmerzhafter. »So habe ich das verstanden.«
»Sie haben verstanden. Da bin ich aber froh, dass Sie das tun … endlich.« Petowski sah erneut hoch und fixierte Harriman mit seinem Blick. »Anton Ozmian. Würden Sie ihn als religiösen Fanatiker bezeichnen?«
»Nein.«
»Würden Sie sagen, dass er gemordet hat, um quasi, Zitat ›unserer Stadt eine Predigt zu halten‹?«
Harriman schrak zusammen, als er die eigenen Worte hörte, die ihm entgegengehalten wurden. »Nein, das würde ich nicht.«
»Ozmian.« Petowski brach den Bleistift entzwei und warf die Bruchstücke angewidert in einen Papierkorb. »So viel zu Ihrer Theorie.«
»Mr. Petowski, ich –«, begann Harriman, aber der Chefredakteur hob Schweigen gebietend einen Finger.
»Wie sich herausgestellt hat, hat Ozmian gar nicht versucht, New York eine Botschaft zu senden. Er wollte gar nicht die korrupten, moralisch verkommenen Menschen als eine Art Warnung an die Massen herausgreifen. Er wollte gar kein Statement an unsere gespaltene Nation abgeben, wonach sich die neunundneunzig Prozent von dem einen Prozent nichts mehr gefallen lassen würden. In Wahrheit war er einer von ihnen!« Petowski schnaubte verächtlich. »Und jetzt sehen wir alle in der Post wie verdammte Trottel aus, und zwar dank Ihnen.«
»Aber die Polizei hat auch –«
Eine unwirsche Geste brachte ihn zum Schweigen. Einen Augenblick lang machte Petowski ein böses Gesicht. Dann fuhr er fort. »Okay. Ich höre. Jetzt haben Sie die Chance, sich von dem, was in Ihren Artikeln gestanden hat, zu distanzieren.« Er hörte auf mit der Schaukelei, setzte sich im Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
Harriman überlegte fieberhaft, aber es fiel ihm nichts ein. Er hatte das alles immer und immer wieder durchdacht, seit er von der Nachricht erfahren hatte. Doch er war in letzter Zeit einfach zu vielen Schocks ausgesetzt gewesen – verhaftet zu werden, freigesprochen und entlassen zu werden, zu erfahren, dass die Enthaupter-Theorie falsch war –, weswegen in seinem Kopf gähnende Leere herrschte.
»Ich habe keine Entschuldigung, Mr. Petowski«, sagte er schließlich. »Ich habe eine Theorie veröffentlicht, die mit allen Fakten gut zusammenzupassen schien und die die Polizei ebenfalls vertreten hat. Aber ich habe mich geirrt.«
»Eine Theorie, die zu haarsträubenden Ausschreitungen im Central Park geführt hat, für die uns die Polizei die Schuld gibt.«
Harriman ließ den Kopf hängen.
Nach einer weiteren Pause holte Petowski tief Luft. »Nun, das ist wenigstens eine ehrliche Antwort.« Er setzte sich schnell auf. »Also gut, Harriman. Ich sage Ihnen jetzt, was Sie zu tun haben. Sie werden Ihre blühende Fantasie bemühen und Ihre Theorie so abwandeln, dass sie auf Ozmian passt – und das, was er wirklich getan hat.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich Sie verstehe.«
»›Spin‹ nennt man so was. Sie werden die Fakten beschönigen, verdrehen, zurechtbiegen. Sie werden Ihre ursprüngliche Theorie in eine neue Richtung lenken, über einige von Ozmians Motiven spekulieren, von denen die Polizei heute Morgen auf der Pressekonferenz womöglich nicht gesprochen hat, ein paar Sätze über die Krawalle im Central Park hinzufügen und daraus eine Reportage basteln, die es so aussehen lässt, dass wir die Finger die ganze Zeit am Puls hatten. Wir sind immer noch die Stadt der ›Endlosen Nacht‹, die Milliardäre setzen ihre Stiefel nach wie vor in den Nacken der Stadt. Okay? Und Ozmian ist der Inbegriff der Habgier, des Anspruchsdenkens, der Selbstsucht und der Verachtung, die die Milliardärsschicht für die arbeitende Bevölkerung dieser Stadt empfindet, genau wie wir die ganze Zeit geschrieben haben. Das ist der Spin. Haben Sie das verstanden?«
»Verstanden«, sagte Harriman.
Er drehte sich um, aber Petowski war noch nicht ganz fertig. »Ach, und noch etwas, Harriman.«
Er wandte den Kopf. »Ja, Mr. Petowski?«
»Diese Hundert-Dollar-Gehaltserhöhung pro Woche, die ich erwähnte … die nehme ich zurück. Rückwirkend.«
Während Harriman wieder durch den Newsroom ging, hob keiner den Blick, um seinem zu begegnen. Alle waren fleißig bei der Arbeit, hockten gebeugt vor ihren Notebooks oder Computerbildschirmen. Doch gerade als er an der Tür ankam, hörte er, wie jemand mit leiser Singsangstimme intonierte: »Ihr Einprozenter, kehret um, bevor es zu spät ist …«
66
Schweigsam betrat D’Agosta hinter Pendergast Anton Ozmians Apartment im Time Warner Center. So wie das Riesenbüro in Lower Manhattan lag auch die Neunzimmerwohnung sozusagen in den Wolken. Der einzige Unterschied war der Ausblick: Statt des New Yorker Hafens lagen vor und unter den Fenstern die spielzeuggroßen Bäume, Rasenflächen und mäandernden Wege des Central Park. Es schien, als ob der Mann die Banalität eines Lebens auf Meereshöhe verachtete.
Die Teams der Spurensicherung waren schon längst gekommen und gegangen – man hatte herzlich wenig Hinweise darauf gefunden, dass Grace Ozmian hier erschossen worden war –, und jetzt befanden sich nur noch ein paar Kriminaltechniker des NYPD in der Wohnung, schossen hier und da ein paar Fotos, machten sich Notizen und unterhielten sich leise. Pendergast hatte nicht mit ihnen gesprochen. Er war mit einer langen Rolle Architektenplänen unterm Arm erschienen, dazu mit einem kleinen elektronischen Gerät, einem Laserentfernungsmesser. Er hatte die Pläne auf einem Tisch aus schwarzem Granit im riesigen Wohnzimmer ausgelegt – der Industrie-Stil der Wohnung ähnelte dem der DigiFlood-Büroräume – und inspizierte sie in allen Einzelteilen, wobei er sich hin und wieder aufrichtete, um sich im Zimmer umzusehen. An irgendeinem Punkt erhob er sich und nahm das Aufmaß mit dem Lasergerät, lief durch mehrere angrenzende Zimmer, um auch dort Maß zu nehmen, und kehrte schließlich zurück.
»Sonderbar«, sagte er schließlich.
»Was ist sonderbar?«, fragte D’Agosta.
Doch Pendergast hatte sich vom Tisch weggedreht und ging zu einer langen Wand hinüber. Davor standen Bücherborde aus poliertem Mahagoni, die hier und da von Kunstwerken auf Sockeln unterbrochen wurden. Mit langsamen Schritten ging er an den Bücherborden entlang, dann trat er kurz zurück, ähnlich einem vermeintlichen Kunstkenner, der ein Gemälde in einem Museum betrachtete. D’Agosta sah zu und fragte sich, was Pendergast im Schilde führte.
Zwei Tage zuvor, als Pendergast nur Minuten bevor D’Agosta in die Luft gesprengt worden wäre, wieder erschienen war, hatte er hauptsächlich eine Riesenerleichterung verspürt, dass er schließlich doch nicht auf eine höchst demütigende und erbärmliche Weise sterben musste. Seitdem hatte D’Agosta viel Zeit zum Nachdenken gehabt, wobei seine Gefühle und Gedanken immer komplizierter geworden waren.
»Hören Sie mal zu, Pendergast –«, setzte er an.
»Einen Moment, Vincent.« Pendergast hob eine kleine römische Büste von ihrem Sockel, stellte sie wieder zurück. Er ging die Reihe der Bücherborde weiter entlang, drückte hier, stupste da. Nach einigen Augenblicken blieb er stehen. Insbesondere ein Buch schien ihn zu interessieren. Er streckte die Hand danach aus, zog es heraus und spähte in den so entstandenen Spalt. Er steckte seine Hand hinein, tastete herum und schien irgendetwas zu drücken. Man hörte das laute Klicken eines Schlosses, dann rollte der gesamte Abschnitt des Bücherbords nach vorn und löste sich von der Wand.