»Erinnert Sie das an eine bestimmte Bibliothek, die wir beide kennen, Vincent?«, fragte Pendergast leise und zog das Regal auf seinen gut geölten Angeln auf.
»Was zum Teufel ist das?«
»Gewisse Ungereimtheiten in den Bauplänen für diese Wohnung haben in mir den Verdacht geweckt, dass sie möglicherweise einen versteckten Raum enthält. Meine Messungen haben es bewiesen. Und dieses Buch«, er hielt eine zerfledderte Ausgabe von J. H. Patternsons Man-Eaters of Tsavo hoch, »schien mir zu passend, als dass ich es übersehen konnte. Was die Sache betrifft, die ich gefunden habe – glauben Sie nicht, dass noch ein großes Stück in diesem Puzzle fehlt?«
»Hm, nein, eigentlich nicht.«
»Nein? Was ist mit den Köpfen?«
»Die Polizei glaubt –« D’Agosta hielt inne. »O verdammt. Doch nicht hier?«
»O doch – hier.« Pendergast zog eine Taschenlampe aus der Tasche und schaltete sie ein, betrat den dunklen Raum, den das aufschwingende Bücherbord zum Vorschein gebracht hatte. D’Agosta folgte und unterdrückte eine gewisse Furcht.
Eine kleine Nische führte zu einer Tür aus Mahagoni. Pendergast öffnete sie, und zum Vorschein kam ein kleines, seltsam geschnittenes Zimmer, rund zwei Meter breit und fünf Meter lang, holzgetäfelt und mit einem Perserteppich auf dem Boden. Während das Licht aus Pendergasts Taschenlampe durch das Zimmer strich, war D’Agosta sofort von einem bizarren Anblick fasziniert: An der rechten Wand hing eine Reihe von Gedenktafeln, und über jeder Tafel befand sich ein menschlicher Kopf, wunderschön konserviert, die Glasaugen funkelnd, die Haut von frischer, natürlicher Farbe, das Haar sorgfältig gekämmt und frisiert, die Gesichter wachsfigurenartig in ihrer seltsamen Stille und Vollkommenheit. Und was besonders grotesk war: Jedem Kopf war ein leises Lächeln verliehen worden. Der Geruch von Formalin lag in der Luft.
Unter jeder Gedenktafel war ein kleines Messingschild in die Wand gebohrt worden. Angeekelt, doch fasziniert wider Willen, folgte D’Agosta dem FBI-Agenten durch das gruselige Zimmer. GRACE OZMIAN lautete der Name unter dem ersten Kopf: eine sandblonde junge Frau mit einem bemerkenswert hübschen Gesicht, rotem Lippenstift und grünen Augen. MARC CANTUCCI lautete der Name unter dem zweiten Kopf: ein älterer, grauhaariger, untersetzter Mann mit braunen Augen und einem schiefen, ironischen Lächeln. Und so ging es weiter, die Prozession von Trophäenköpfen führte zum rückwärtigen Ende des Geheimzimmers, bis die beiden vor einer einzelnen, leeren Gedenktafel ankamen. Darunter war bereits ein Messingschild angebracht. ALOYSIUS PENDERGAST lautete der eingravierte Schriftzug.
Im hintersten Ende des Zimmers stand ein Ledersessel mit einem Tischchen daneben, auf dem sich eine Kristallkaraffe und ein Cognacschwenker befanden. Neben dem Tischchen stand eine Stehlampe mit einem Schirm aus Tiffany-Glas. Pendergast streckte die Hand aus und zog an der Kordel. Plötzlich wurde das Zimmer von einem weichen Licht erhellt, und die sechs Trophäenköpfe warfen gespenstische Schatten an die Decke.
»Ozmians Trophäenzimmer«, murmelte Pendergast halblaut und steckte seine Taschenlampe wieder ein.
D’Agosta schluckte. »Dieser verrückte Hurensohn.« Er konnte seinen Blick einfach nicht von dem leeren Brett am Ende der Reihe abwenden – demjenigen, das für Pendergast vorgesehen war.
»Verrückt, ja, aber ein Mann mit außerordentlichen kriminellen Fähigkeiten – er vermochte Sicherheitsanlagen zu umgehen, sich in aller Öffentlichkeit zu verstecken, fast spurlos zu verschwinden. Nehmen Sie zum Beispiel die überaus teure Silikonmaske, die er benutzt haben muss, um Roland McMurphy zu verkörpern. Kombinieren Sie diese Fähigkeiten mit extremer Intelligenz, einer völligen Abwesenheit von Mitgefühl und Empathie sowie einem hohen Maß an Ehrgeiz, und Sie bekommen einen Psychopathen ersten Ranges.«
»Aber es gibt da eine Sache, die ich nicht verstehe«, sagte D’Agosta. »Wie ist er in Cantuccis Haus gekommen? Ich meine, das Stadthaus war eine Festung, und der Sicherheitsexperte und alle anderen haben gesagt, dass nur ein Angestellter von Sharps & Gund an den ganzen Alarmanlagen und Gegenmaßnahmen hätte vorbeikommen können.«
»Kein so unüberwindliches Problem für ein Computergenie wie Ozmian, der eine Truppe erstklassiger Hacker angestellt hatte – wobei die nicht nur äußerst gut bezahlt, sondern einige von ihnen auch wegen ihrer vorhergehenden illegalen Hackeraktivitäten von Ozmian erpresst wurden. Die haben nach seiner Pfeife getanzt, weil sie in einer der fortschrittlichsten und mächtigsten Tech-Firmen der Welt arbeiten wollten, mit Zugang zu all den neuesten digitalen Werkzeugen. Überlegen Sie doch mal, wie er und seine Leute diesem Reporter Harriman mitgespielt haben. Eine teuflisch gute Nummer. Weil Ozmian solch hochkarätige Experten zur Verfügung standen, war es gar nicht schwierig, in Cantuccis Domizil einzubrechen.«
»Ja, das ergibt Sinn.«
Pedergast wandte sich zum Gehen.
»Hm, Pendergast?«
Der Agent drehte sich halb um. »Ja, Vincent?«
»Ich glaube, ich muss mich bei Ihnen entschuldigen.«
Pendergast hob fragend die Augenbrauen.
»Ich war dumm. Ich habe verzweifelt nach Antworten gesucht. Alle, vom Bürgermeister angefangen, haben mir Feuer unterm Hintern gemacht … und ich habe diesem verdammten Reporter seine Theorie abgekauft. Und dann habe ich Sie beschimpft, als Sie mich zu warnen versuchten, dass die Theorie falsch war –«
Pendergast hob die Hand, damit D’Agosta nicht weiterredete. »Mein lieber Vincent. Harrimans Story passte anscheinend mit allen Fakten zusammen, es war eine durchaus vielversprechende Theorie, und Sie waren nicht der Einzige, der darauf hereingefallen ist. Es ist eine Lektion für uns alle: Die Dinge sind nicht immer so, wie sie scheinen.«
»Das kann man wohl sagen.« D’Agosta warf einen Blick auf die gruselige Reihe von Trophäenköpfen. »Nicht im Traum hätte ich mir vorstellen können, dass es so etwas gibt.«
»Und eben darum hat unsere Abteilung für Verhaltenswissenschaften kein Profil von dem Mann erstellen können. Denn psychologisch betrachtet war er gar kein Serienmörder. Er war wahrhaft sui generis.«
»Sui was … was heißt –?«
»Ist nur ein lateinischer Ausdruck. Er bedeutet: ›seiner eigenen Art; einzig, besonders‹.«
»Ich muss hier raus.«
Pendergast schaute auf die leere Tafel mit seinem Namen darauf. »Sic transit gloria mundi«, murmelte er erneut auf Lateinisch. Und dann wandte er sich ab und ging schnellen Schrittes aus diesem kleinen Horrorkabinett.
Sie kehrten in das riesige Wohnzimmer in Ozmians Wohnung mit ihren weiten Ausblicken zurück. D’Agosta trat ans Fenster und atmete tief durch. »Von manchen Dingen wünscht man, man hätte sie nie gesehen.«
»Zeuge des Bösen zu sein heißt, menschlich zu sein.«
Pendergast gesellte sich ihm am Fenster zu. Einen Augenblick lang schauten sie schweigend hinaus. Die winterliche Landschaft New Yorks war in das blassgelbe Licht des späten Nachmittags getaucht.
»Auf merkwürdige Weise hatte dieser eingebildete Harriman recht – die Einprozenter ruinieren tatsächlich diese Stadt«, sagte D’Agosta. »Außerdem ist es irgendwie komisch, dass sich herausgestellt hat, dass der Mörder selbst zu den Einprozentern gehört. Einfach nur ein superreicher, selbstgefälliger Dreckskerl, der auf Kosten aller anderen seinen Spaß hat. Ich meine, sehen Sie sich doch mal diese Wohnung an! Ich könnte kotzen. Diese arroganten Arschlöcher in ihren Penthouses, die in ihren Stretchlimousinen mit ihren Chauffeuren und Butlern in der Stadt herumgondeln …« Er verstummte, weil er merkte, dass sein Gesicht rot angelaufen war. »Sorry. Sie wissen, dass ich nicht Sie gemeint habe.«
Zum ersten Mal, seit er sich erinnern konnte, hörte er Pendergast lachen. »Vincent, es ist nicht wichtig, was man auf dem Bankkonto hat, sondern im Kopf, um einen klugen Mann zu paraphrasieren. Die Teilung in die Reichen und alle anderen ist ein falscher Gegensatz – und zwar einer, der das wahre Problem verdeckt: Es gibt viele böse Menschen in der Welt, reiche und arme. Das ist die wahre Unterscheidung – zwischen jenen, die nach dem Guten streben, und jenen, die nur an sich denken. Dabei vergrößert Geld natürlich den Schaden, den die Reichen anrichten können, es erlaubt ihnen, ihre Vulgarität und ihre Vergehen vor aller Augen zur Schau zu stellen.«