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Prosper musterte jeden, der vorbeikam, aber ihr Verfolger tauchte nicht auf. Als endlich ein Vaporetto anlegte, ließen die Jungen sich von den Wartenden mit an Bord schieben, und während die anderen Fahrgäste zu den wenigen Sitzplätzen drängten, die im überdachten Teil des Bootes noch frei waren, lehnten Prosper und Riccio sich an die Reling und ließen das Kanalufer nicht aus den Augen.

»Wir haben keine Fahrkarte«, flüsterte Prosper besorgt, als das voll beladene Boot ablegte.

»Macht nichts«, flüsterte Riccio zurück. »Wir steigen an der nächsten Station sowieso wieder aus. Aber guck mal, wer dahinten steht.« Er wies auf die Haltestelle, die sie eben hinter sich gelassen hatten. »Siehst du ihn?« O ja, Prosper sah ihn ganz genau. Da stand er, der Walrossbart.

Mit zusammengekniffenen Augen starrte er dem davonschlingernden Boot nach. Riccio winkte ihm spöttisch zu. »Was soll das?« Erschrocken zog Prosper ihm den Arm herunter. »Wieso? Meinst du, er schwimmt uns nach? Oder holt das Boot ein mit seinen kurzen Beinen? Nein, mein Lieber. Das ist das Gute an dieser Stadt. Wenn dich einer verfolgt, brauchst du bloß die Kanalseite zu wechseln und schon ist der Verfolger aufgeschmissen. Du musst natürlich dafür sorgen, dass nicht gerade eine Brücke in der Nähe ist. Aber über den

Canal Grande gibt es nur zwei Brücken, das müsstest inzwischen sogar du wissen.« Prosper antwortete nicht. Von ihrem Verfolger war längst nichts mehr zu sehen, aber Prosper starrte immer noch so besorgt zum anderen Ufer hinüber, als könnte der Fremde dort jeden Moment wieder auftauchen, zwischen den zierlichen Säulen der Paläste, auf dem Balkon eines Hotels oder auf einem der Boote, die ihnen entgegenkamen.

»He, guck nicht so, wir sind ihn los!« Riccio rüttelte Prosper an der Schulter, bis er sich zu ihm umdrehte. »Ich bin dem Kerl schon mal entwischt, weißt du? Verdammt!« Bestürzt sah er sich um. »Ich glaub, jetzt hab ich bei all dem Gehetze die Kuchenschachtel verloren.«

»Du kennst den Kerl?« Ungläubig sah Prosper ihn an. Riccio stützte sich auf die Reling. »Ja. Er ist ein Detektiv. Sucht für die Touristen ihre verlorenen Handtaschen und verschwundenen Geldbörsen. Mich hat er mal fast erwischt mit so einem Ding.« Riccio zupfte sich am Ohr und kicherte. »Er ist ja nicht besonders schnell. Aber hinter was er diesmal her war.« Neugierig blickte er Prosper an. »Du weißt, ich halte mich an unsere Regeclass="underline" Keinen geht an, was war. Aber. es sieht wirklich so aus, als wäre der Kerl hinter dir her gewesen. Kennst du jemanden, der einem Detektiv Geld dafür bezahlen würde, dich zu suchen?« Prosper blickte zum anderen Ufer hinüber. Das Vaporetto steuerte träge auf die nächste Haltestelle zu. »Könnte sein«, antwortete er ohne Riccio anzusehen. Ein Schwarm Möwen erhob sich kreischend von dem dunklen Wasser, als das Boot auf den Anleger zudriftete.

»Lass uns aussteigen«, sagte Riccio. Nacheinander sprangen sie an Land, während schon die nächsten Fahrgäste an Bord drängten. »Gott, die anderen werden denken, dass wir uns mit Scipios Beute aus dem Staub gemacht haben«, meinte Riccio, als sie dem Canal Grande wieder den Rücken kehrten. »Der Weg zurück zum Versteck ist durch unsere kleine Bootsfahrt nicht gerade kürzer geworden.« Er warf Prosper einen neugierigen Blick zu. »Hast du Lust, mir zu erzählen, wer dir den Detektiv auf den Hals hetzt? Was hast du angestellt? Hast du jemandem was geklaut, was er wiederhaben will?«

»Unsinn. Du weißt, dass ich nicht klaue. Wenn ich's vermeiden kann.« Prosper schob die Hand unter seine Jacke und zog sie beruhigt wieder heraus. Barbarossas Geld war noch da. »Stimmt.« Riccio runzelte die Stirn und senkte die Stimme. »Ist etwa so ein. so ein Kinderhändler hinter euch her? Sucht euch so einer?« Prosper sah ihn erschrocken an. »Nein! Verdammt, nein, so schlimm ist es nun auch wieder nicht.« Er blickte zu einer Steinfratze hoch, die von einem Torbogen auf ihn herunterstarrte. »Ich glaub, meine Tante sucht uns. Esther, die Schwester unserer Mutter. Geld genug hätte sie. Sie hat keine Kinder, und als unsere Mutter gestorben ist, wollte sie sich Bo holen. Mich wollte sie in ein Internat stecken. Da sind wir weggelaufen. Was sollte ich sonst machen? Er ist doch mein Bruder.« Prosper blieb stehen. »Denkst du, Esther hätte Bo gefragt, ob er sie als neue Mutter haben will? Er kann sie nicht ausstehen! Er sagt, sie riecht wie giftige Farbe. Und dass sie.«, er musste lächeln, ». aussieht wie eine von den Porzellanpuppen, die sie sammelt.« Prosper bückte sich und hob einen Plastikfächer auf, der vor einer Hausschwelle lag. Der Griff war angebrochen, aber das würde Bo sicherlich nicht stören. »Bo denkt, ich kann ihn vor allem beschützen«, sagte er und steckte seinen Fund in die leere Tasche. »Aber wenn Wespe uns nicht gefunden hätte.«

»Komm, mach dir jetzt keine Sorgen mehr wegen diesem Schnüffler!« Riccio zog ihn weiter. »Der wird dich nicht noch einmal finden. Ist doch ganz einfach, wir färben Bos Engelshaar schwarz, und dir malen wir das Gesicht an, dass du aussiehst wie Moscas Zwillingsbruder.«

Prosper musste lachen. Riccio konnte ihn zum Lachen bringen, selbst wenn ihm nicht danach zumute war. »Wünschst du dir auch manchmal erwachsen zu sein?«, fragte er, als sie über eine Brücke gingen, die sich verschwommen im Wasser spiegelte. Riccio schüttelte verblüfft den Kopf. »Nein, wieso? Ist doch ziemlich praktisch, klein zu sein. Man fällt nicht so auf, man wird schneller satt. Weißt du, was Scipio immer sagt?« Er hüpfte von der Brücke. »Kinder sind Raupen und Erwachsene sind Schmetterlinge. Und kein Schmetterling erinnert sich mehr daran, wie es sich anfühlte, eine Raupe zu sein.«

»Wahrscheinlich nicht«, murmelte Prosper. »Erzähl Bo nichts von dem Detektiv, ja?« Riccio nickte nur.

Pech für Victor

Als Victor begriff, dass Prosper ihm entwischt war, trat er vor Wut gegen den nächsten Holzpfahl, der aus dem schmutzigen Kanalwasser ragte. Danach musste er nach Hause humpeln. Den halben Weg lang schimpfte er vor sich hin, so laut, dass sich die Leute nach ihm

umdrehten. Aber Victor bemerkte es nicht in seiner

Wut. »Wie ein Anfänger«, schimpfte er. »Wie ein

Anfänger habe ich mich abhängen lassen. Wer war eigentlich der andere? Für den kleinen Bruder zu groß. Verdammt. Verdammt. Verdammt. Da stolpert mir der Junge direkt vor die Nase und ich lasse ihn davonkommen. Ich Hornochse!« Er trat mit dem verstauchten Fuß nach einer leeren Zigarettenschachtel und verzog das Gesicht vor Schmerz. »Selber schuld«, knurrte er. »Jawohl, selber schuld. Kinder fangen, so was macht ein anständiger Detektiv nicht. Das Schildkrötenfutter hätte ich auch ohne diesen vermaledeiten Auftrag bezahlen können.«

Der Fuß schmerzte immer noch, als Victor seine Haustür aufschloss. »Na gut, wenigstens weiß ich jetzt, dass sie in der Stadt sind«, brummte er, als er die Treppe hinaufhumpelte. »Wo der Große ist, ist auch der Kleine. Das steht fest.«

In seiner Wohnung streifte er erst mal die Schuhe von den schmerzenden Füßen und hinkte auf den Balkon hinaus, um die Schildkröten zu füttern. In seinem Büro roch es immer noch nach Esther Hartliebs Haarspray. Pfui Teufel, er bekam den Geruch gar nicht mehr aus der Nase. Und die Jungen gingen ihm auch nicht mehr aus dem Kopf. Er hätte ihr Foto nicht an die Wand hängen sollen. Dauernd sahen sie ihn an. Wo sie nachts wohl schliefen? Abends wurde es jetzt scheußlich kalt, sobald die Sonne hinter den Häusern verschwunden war. Und im letzten Winter hatte es so viel geregnet, dass die Stadt ein Dutzend Mal unter Wasser gestanden hatte. Nun ja, sie war verwinkelt wie ein alter Fuchsbau, für zwei Kinder fand sich bestimmt immer ein trockener Platz in irgendeinem leer stehenden Haus oder einer der zahllosen Kirchen. Nicht in jeder wimmelte es schließlich von Touristen. »Ich werde sie schon finden«, knurrte Victor. »Das wäre ja gelacht.« Als die Schildkröten satt waren, füllte er sich selbst den hungrigen Magen mit Bergen von Spaghetti und gebratener Wurst. Dann schmierte er sich etwas Salbe auf den schmerzenden Fuß, setzte sich an den Schreibtisch und erledigte etwas von dem Papierkram, der sich dort angestaut hatte. Schließlich hatte er noch andere Aufträge als die Suche nach diesen Jungen. Ich glaube, ich sollte mich in den nächsten Tagen öfter mal auf den Markusplatz setzen, dachte Victor. Mir einen Kaffee bestellen und die Tauben füttern, bis sie irgendwann auftauchen. Wie heißt es doch so schön: Jeder, der in Venedig ist, kommt mindestens einmal am Tag auf den Markusplatz. Wieso sollte das nicht für entlaufene Kinder gelten?