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Herrgott!, dachte Victor, nun trägt das Rotbärtchen aber wirklich zu dick auf! Doch Esthers verzückter Blick belehrte ihn eines Besseren. Offenbar wusste Barbarossa sehr genau, was er tat. »Tizian?«, fragte Esther und lächelte dem Kleinen zu. »Du magst die Gemälde von Tizian?« Barbarossa nickte.

»Ich mag sie auch sehr«, sagte Esther. Ihre Stimme klang plötzlich ganz weich, völlig anders, als Victor sie bislang gehört hatte. »Tizian ist mein Lieblingsmaler.« »Oh, tatsächlich, Signora?« Barbarossa strich sich die roten Locken aus dem Gesicht. »Dann haben Sie bestimmt schon sein Grab in der Frari-Kirche besucht, oder? Am besten gefällt mir das Bild, auf dem er sich selbst gemalt hat: wie er die Madonna darum anfleht, ihn und seinen Lieblingssohn vor der Pest zu verschonen. Haben Sie es gesehen?«

Esther schüttelte den Kopf.

»Sein Sohn ist trotzdem an der Pest gestorben«, fuhr Barbarossa fort. »Und Tizian auch. Wissen Sie, Signora, Sie sehen ihr ein bisschen ähnlich, der Madonna auf diesem Bild. Ich würde sie Ihnen gern einmal zeigen.« Bei allen geflügelten Löwen!, dachte Victor. Jetzt tropft ihm gleich das Schmalz von den Lippen, dem kleinen Schmeichler. Allerdings, wenn Victor sich recht erinnerte, sah die Madonna auf dem Bild ziemlich streng aus, vielleicht ähnelte sie Esther Hartlieb wirklich ein bisschen. Das Kompliment hatte seine Wirkung auf jeden Fall nicht verfehlt.

Rot wie Klatschmohn war Esther geworden, die spitznasige Esther. Wie ein kleines Mädchen saß sie auf der Kante ihres Stuhls und sah auf ihre Schuhspitzen. Dann drehte sie sich plötzlich zu Ida um.

»Wäre das möglich?«, stammelte sie. »Ich meine, Sie wissen, mein Mann und ich sind nur noch bis übermorgen in der Stadt, aber wäre es möglich, dass ich mit dem Kleinen.«

»Ernesto«, unterbrach Ida sie mit kühlem Lächeln. »Er heißt Ernesto.«

»Ernesto.« Esther wiederholte den Namen, als lutsche sie ein Honigbonbon. »Ich weiß, die Bitte ist etwas ungewöhnlich, aber - wäre es denkbar, dass ich Ernesto zu einem kleinen Ausflug einlade? Ich würde mir von ihm die Frari-Kirche zeigen lassen, wir könnten ein Eis essen gehen oder Boot fahren, und heute Abend würde ich ihn hierher zurückbringen.«

Schwester Ida hob die Augenbrauen. Victor fand, dass ihr Erstaunen wirklich sehr echt wirkte.

»Das ist in der Tat ein sehr ungewöhnliches Anliegen«, sagte Ida und wandte sich an Barbarossa, der immer noch mit der unschuldigsten Miene der Welt dastand, die Hände sittsam hinter dem Rücken verschränkt. Das Haar hatte er sich selbst gebürstet, so lange, bis es glänzte. »Was sagst du zu dem Angebot von Signora Hartlieb, Ernesto?«, fragte Ida. »Hättest du Lust, mit der Signora einen Ausflug zu machen? Du weißt, wir kommen frühestens in einer Woche dazu.«

Nun sag schon »ja«, Rotbärtchen, dachte Victor und ließ Barbarossa nicht aus den Augen. Denk an die harten Betten im Waisenhaus. Barbarossa sah zu Victor herüber, als hätte er seine Gedanken gelesen. Dann blickte er Esther an. Nicht mal ein kleiner Hund hätte einen treuherzigeren Blick zu Stande gebracht. »So ein Ausflug wäre wunderbar, Signora!«, sagte er und schenkte Esther ein Lächeln, das so klebrig süß wie Lucias Pudding war. »Das ist wirklich reizend von Ihnen, Signora Hartlieb«, sagte Ida und läutete die kleine Silberglocke, die vor ihr auf dem Tisch stand. »Ernesto hat es zurzeit nicht leicht hier. Was Ihre Neffen betrifft«, fügte sie hinzu, als Lucia wieder eintrat, »so muss ich Ihnen leider sagen, dass sie Sie nicht sehen wollen. Soll ich Schwester Lucia trotzdem bitten, sie herzuholen?« Das Lächeln auf Esthers Lippen verschwand sofort. »Nein, nein«, antwortete sie hastig. »Ich werde sie später besuchen, irgendwann, wenn ich wieder einmal in der Stadt bin.«

»Wie Sie meinen«, sagte Ida und wandte sich Lucia zu, die wartend in der Tür stand. »Helfen Sie Ernesto bitte dabei, sich zum Ausgehen fertig zu machen, Schwester. Signora Hartlieb hat ihn zu einem Ausflug eingeladen.« »Wie reizend von ihr«, brummte Lucia, während sie

nach Barbarossas Hand griff. »Da wollen wir dem Kleinen doch schnell noch mal den Hals und die Ohren waschen, nicht wahr?«

»Die sind gewaschen«, fuhr Barbarossa sie an und für einen Augenblick klang seine Stimme weder nett noch schüchtern. Doch Esther hatte davon nichts bemerkt. Ganz in Gedanken versunken saß sie da, auf dem harten Stuhl vor Idas Schreibtisch, und blickte zu dem Bild mit der Madonna hoch. Victor hätte drei falsche Bärte dafür gegeben, ihre Gedanken lesen zu können. »Hat der Junge noch Eltern?«, fragte Esther, als Lucia mit Barbarossa verschwunden war.

Ida schüttelte mit einem tiefen Seufzer den Kopf. »Nein, Ernesto ist der Sohn eines wohlhabenden Antiquitätenhändlers, der letzte Woche unter rätselhaften Umständen verschwunden ist. Die Polizei vermutet einen Bootsunfall auf der Lagune, vielleicht bei einem nächtlichen Jagdausflug. Seither ist der Junge bei uns. Seine Mutter hat den Vater schon vor Jahren verlassen und ist nicht bereit, sich um das Kind zu kümmern. Erstaunlich, nicht wahr? Er ist ein so entzückender Junge.«

»Allerdings.« Esther blickte zur Tür, als stünde Barbarossa immer noch dort. »Er ist so ganz anders als - als meine Neffen.«

»Verwandtschaft ist eben keine Garantie für Liebe«, stellte Victor fest. »Obwohl wir alle das gern glauben.« »Wie wahr, wie wahr!« Esther lachte, ein klitzekleines, freudloses Lachen. »Wissen Sie, ich hätte wirklich gern ein Kind, aber.«, sie blickte hinauf zur Decke, wo der Putz so brüchig aussah, als würde er ihr im nächsten Moment auf die wohl frisierten Haare rieseln, ». ich habe noch keines gefunden, das mich gern zur Mutter hätte. Sie sehen es ja an meinen Neffen. Die zwei halten mich, nehme ich an, für eine Art Hexe.« Wieder musterte sie die Decke. »Nein, vermutlich halten sie mich für etwas wesentlich Langweiligeres«, murmelte sie. Und lachte noch einmal ihr käferkleines, trauriges Lachen. »Ich wünschte wirklich, es gäbe irgendwo ein Kind, das zu mir passt.«

Victor und Ida wechselten einen verschwörerischen Blick. Esther brachte Barbarossa an diesem Abend sehr spät zurück. Prosper und Bo beobachteten vom Fenster des salotto, wie sie Seite an Seite über den Platz kamen: Barbarossa schleckte an einem riesigen Eis, ohne sich zu bekleckern. Bo hätte wirklich interessiert, wie er das fertig brachte. Esther war behängt mit voll gestopften Einkaufstüten, - aber ihre linke Hand hielt Barbarossas Hand und auf ihren Lippen lag ein glückliches Lächeln. »Guckt euch an, wie sie ihn anhimmelt!« Riccio beugte sich über Bos Schulter. »Und die ganzen Pakete, ich wette, die sind alle für ihn. Bereut ihr es immer noch nicht, dass ihr sie so vergrault habt, dass sie euch nicht mehr haben will?«

Bo schüttelte heftig den Kopf, aber Prosper musste an jemand anderes denken, der so ähnlich wie Esther ausgesehen hatte. Er war sehr froh, als Victor ihn aus seinen Gedanken schreckte. »Na, passen die beiden da unten nicht perfekt zusammen?«, raunte er Prosper ins Ohr. »Als wären sie füreinander gemacht, oder?« Prosper nickte.

»Nun komm schon. Pack das sorgenvolle Gesicht für eine Weile weg«, sagte Victor und gab ihm einen sachten Stoß in den Rücken. »Zwei Tage noch, dann fliegt eure Tante nach Hause. Und Bo wird nicht mit im Flugzeug sitzen.«

»Das glaub ich erst, wenn das Flugzeug in der Luft ist«, murmelte Prosper. Und während er zusah, wie Esther Barbarossa die Eiscreme vom Mund wischte, fragte er sich zum hundertsten Mal, wo Scipio steckte. Er hätte ihm zu gern erzählt, dass seine verrückte Idee tatsächlich zu funktionieren schien.

Alles findet sich, oder?

Esther Hartlieb flog am übernächsten Tag nicht nach Hause. Ihr Mann stieg allein ins Flugzeug, während sie mit Barbarossa den Dogenpalast besichtigte. Am Tag darauf holte sie Ernesto wieder ab, für einen Ausflug zu den Glasbläsern auf Murano, aber vorher ging sie noch mit ihm einkaufen, und als Barbarossa abends in die Casa Spavento zurückkehrte, trug er die teuersten Kleider, die für einen Jungen seines Alters in Venedig zu kaufen waren. Wie ein kleiner Gockel spazierte er in den salotto, wo die anderen gerade auf dem Teppich hockten und mit Ida Karten spielten. »Ihr seid wirklich unfassbare Idioten«, sagte er zu Prosper und Bo, die immer noch ihre alten Sachen trugen, nur dass Lucia sie frisch gewaschen hatte. »Da schenkt die Fügung euch solch eine Tante und ihr lauft vor ihr davon, als wäre der Teufel persönlich hinter euch her. Euer Verstand muss in einen Eierbecher passen.«