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Als Joey am Vortag nach Asherville gefahren war, hatte es die Coal Valley Road nicht gegeben. Doch jetzt war sie wieder da und schien auf ihn zu warten. Die Straße, die aus der regengepeitschten Dämmerung in eine unbekannte Dunkelheit führte. Der nicht eingeschlagene Weg.

Joey umklammerte den Flachmann. Die Flasche war geöffnet, obwohl er sich nicht daran erinnern konnte, sie aufgeschraubt zu haben.

Wenn er den Rest Jack Daniel’s austrank, würde die Straße vielleicht verschwimmen und sich schließlich in Luft auflösen. Vielleicht war es klüger, nicht auf eine wundersame zweite Chance und auf eine übernatürliche Erlösung zu hoffen. Höchstwahrscheinlich würde sich sein Leben, wenn er diese seltsame Straße einschlug, nicht zum Besseren, sondern zum Schlechteren wenden.

Er führte die Flasche an seine Lippen.

Donner rollte über einen kalten Himmel, und das Prasseln des Regens übertönte sogar den laufenden Motor.

Der Whisky roch verheißungsvoll.

Regen, Regen, sintflutartiger Regen, der das letzte trübe Tageslicht hinwegschwemmte.

Vor dem Regen war er im Wagen geschützt, aber dem dichten Schleier der hereinbrechenden Dunkelheit konnte er nicht entrinnen. Sie drang sogar ins Auto ein, aber sie war eine vertraute Gefährtin, mit der er unzählige einsame Stunden zugebracht hatte, während er über sein verpfuschtes Leben nachdachte.

Er und die Nacht - sie hatten zusammen viele Flaschen Whisky geleert, und immer hatte der Schlaf ihm letztlich ein gnädiges Vergessen beschert. Auch jetzt brauchte er den Flachmann nur an seine Lippen zu führen und den Rest Whisky zu trinken. Dann würde die gefährliche Versuchung, an eine zweite Chance zu glauben und neue Hoffnung zu schöpfen, bestimmt an ihm vorübergehen, die mysteriöse Straße würde verschwinden, und er könnte sein gewohntes Leben weiterführen, das zwar ohne jede Hoffnung, aber durchaus erträglich war, solange er sich mit Alkohol betäuben konnte.

Er saß lange mit der Flasche in der Hand da. Wollte trinken

-    trank aber nicht.

Das Auto, das hinter ihm auf der Bundesstraße angebraust kam, nahm er erst wahr, als die Scheinwerfer seinen Chevrolet durchs Heckfenster mit grellem Licht überfluteten. Er warf einen Blick in den Rückspiegel, wurde aber schmerzhaft geblendet, fast so, als käme eine Lokomotive mit einem riesigen flammenden Zyklopenauge direkt auf ihn zu.

Das Auto bog scharf in die Coal Valley Road ab und die quietschenden Reifen wirbelten soviel schmutziges Wasser aus den tiefen Pfützen auf, daß Joey weder die Marke erkennen noch einen Blick auf den Fahrer werfen konnte.

Als die Sicht wieder halbwegs klar war, stellte Joey fest, das das andere Fahrzeug langsamer wurde und nach etwa hundert Metern unter den Bäumen am Straßenrand stehenblieb.

»Nein«, murmelte Joey. Die roten Standlichter sahen auf der Coal Valley Road wie die funkelnden Augen eines Dämons aus

-    furchterregend, aber doch faszinierend und regelrecht hypnotisch.

»Nein!«

Er dreht den Kopf und betrachtete die dunkle Bundesstraße, die direkt vor ihm lag, jene Straße, für die er sich vor zwanzig Jahren entschieden hatte. Damals war das der falsche Weg gewesen, aber jetzt war es der einzig richtige. Schließlich wollte er nicht wie damals ins College; er war jetzt vierzig Jahre alt und mußte nach Scranton, von wo aus er morgen früh nach Pittsburgh fliegen würde.

Auf der Coal Valley Road glühten die Rücklichter. Der seltsame Wagen wartete. Scranton. Pittsburgh. Las Vegas. Die Wohnwagenkolonie. Ein schäbiges, aber sicheres Leben. Ohne Hoffnung aber auch ohne unangenehme Überraschungen.

Rote Lichter. Leuchtsignale inmitten der Sintflut.

Joey schraubte den Flachmann zu, ohne einen Schluck getrunken zu haben.

Er schaltete die Scheinwerfer ein.

»Gott steh mir bei«, murmelte er.

Er fuhr über die Kreuzung und bog in die Coal Valley Road ab.

Vor ihm setzte sich das andere Auto wieder in Bewegung.

Wurde immer schneller.

Joey Shannon folgte dem Geisterfahrer aus der Realität hinaus zu einer Stadt, die es nicht mehr gab, einem unbekannten und gänzlich unvorstellbaren Schicksal entgegen.

8

Wind und Regen rissen Blätter von den Bäumen und schleuderten sie auf die Straße. Einige landeten auch auf der Windschutzscheibe und klebten daran fest, fledermausförmige Gebilde, die ihre Flügel zusammenrollten und abfielen, wenn die Scheibenwischer sie streiften.

Joey blieb etwa hundert Meter hinter dem anderen Auto, und aus dieser Entfernung konnte er die Marke und das Modell nicht erkennen. Er redete sich ein, daß er immer noch umkehren und auf der Bundesstraße nach Scranton fahren könnte, wie ursprünglich geplant. Aber diese Möglichkeit umzukehren hätte er nicht mehr, wenn er das andere Fahrzeug deutlicher zu sehen bekäme. Er begriff intuitiv, daß sein Schicksal endgültig besiegelt würde, wenn er mehr über das mysteriöse Geschehen erführe. Kilometer um Kilometer entfernte er sich von der realen Welt und fuhr in das unwirkliche Land der zweiten Chance hinein. Und schließlich würde die Kreuzung zwischen Bundesstraße und Coal Valley Road, die nun schon weit hinter ihm lag, sich im Dunkeln einfach auflösen.

Nach etwa fünf Kilometern sah Joey am Straßenrand einen weißen zweitürigen Plymouth Valiant stehen - ein Modell, das er als Junge sehr bewundert hatte, das nun aber schon seit einer Ewigkeit von den Straßen verschwunden war. Drei Warndreiecke waren aufgestellt worden, und in ihrem grellen roten Licht schien sich der strömende Regen in Blut zu verwandeln - eine düstere Abart der Transsubstantiation.

Das Fahrzeug, dem Joey bisher gefolgt war, hielt neben dem Plymouth Valiant fast an, beschleunigte dann aber wieder.

Neben dem Valiant stand eine Gestalt in schwarzem Regenmantel mit Kapuze, eine Taschenlampe in der Hand, und winkte heftig.

Joey blickte den Rücklichtern des anderen Autos nach, die in der Ferne immer kleiner wurden. Bald würde es um eine Kurve biegen oder einen Hügel hinabfahren, und dann würde sich seine Spur verlieren.

Als er an dem Plymouth vorbeifuhr, sah er, daß die Gestalt im Regenmantel eine Frau war. Besser gesagt ein Mädchen, kaum älter als sechzehn oder siebzehn. Ein sehr hübsches Mädchen.

Im Schein der roten Warnlichter erinnerte ihr Gesicht ihn plötzlich seltsamerweise an die Madonnenstatue in der Kirche »Unsere schmerzensreiche Mutter«. Von den Opferkerzen in roten Gläsern beleuchtet, wirkte das glatte Keramikgesicht der heiligen Jungfrau manchmal gespenstisch lebendig und vom Leid gezeichnet.

Das Mädchen warf ihm einen flehenden Blick zu, und plötzlich hatte er eine gräßliche Vorahnung, nein, eher eine Vision: Er sah dieses liebliche Gesicht, blutüberströmt und ohne Augen. Und er wußte plötzlich, daß sie den nächsten Morgen nicht mehr erleben, sondern noch in dieser düsteren Nacht eines gewaltsamen Todes sterben würde, wenn er nicht anhielt, wenn er ihr nicht half.

Er parkte vor dem Valiant am Straßenrand und stieg aus. Der strömende Regen störte ihn nicht, weil er ohnehin schon durchnäßt war, und die kalte Nachtluft ließ ihn bei weitem nicht so frösteln wie die Nachricht von seiner Erbschaft.

Das Mädchen lief ihm entgegen. Sie trafen sich vor dem Valiant.

»Gott sei Dank haben Sie angehalten«, sagte sie. Durch den Regen, der von ihrer Kapuze perlte, wirkte ihr Gesicht wie verschleiert.

»Was ist passiert?« fragte Joey.

»Das Auto ist plötzlich stehengeblieben.«

»Während der Fahrt?«

»Ja, aber es liegt nicht an der Batterie.«

»Woher wissen Sie das?«

»Das Licht brennt noch.«

Ihre Augen waren dunkel und sehr groß. Ihr Gesicht schien im Licht der Warndreiecke zu glühen, und die Regentropfen auf ihren Wangen glänzten wie Tränen.

»Vielleicht liegt es an der Lichtmaschine«, sagte Joey.