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An seinem linken Arm war ein Tropf angelegt. Ein Sauerstoffschlauch war in seiner Nase angebracht. Er war an ein EKG-Gerät angeschlossen, und seine Herztätigkeit konnte in grünen Kurven von einem Monitor neben dem Bett abgelesen werden; bei jedem Herzschlag ertönte ein kurzer Piepton. Oft waren Kurven und Signaltöne mehrere Minuten lang unregelmäßig.

Ich hielt seine Hand. Ich strich das feuchte Haar aus seiner Stirn. Ich zog die Decke hoch bis an sein Kinn, wenn er von Schüttelfrost befallen wurde, und zog sie wieder herunter, sobald er einen Fieberausbruch hatte.

Benny kam immer nur für kurze Zeit zu Bewußtsein. Doch selbst wenn er seine Augen öffnete, erkannte oder verstand er mich nicht immer.

»Papi?«

»Ja, Benny?«

»Bist du’s, Papi?«

»Ja, ich bin es.«

»Wo bin ich?«

»Im Bett. Hab keine Angst. Ich bin ja bei dir, Benny.«

»Ist das Essen fertig?«

»Nein, noch nicht.«

»Ich möchte gerne Hamburger und Pommes frites.«

»Ja, das bekommst du auch.«

»Wo sind meine Schuhe?«

»Du brauchst heute abend keine Schuhe mehr anzuziehen, Benny.«

»Gehen wir denn nicht spazieren?«

»Nein, heute abend nicht.«

»Ach so.«

Dann seufzte er und wurde wieder bewußtlos.

Draußen regnete es. Regentropfen klatschten an die Fenster der Intensivstation und liefen an den Scheiben herunter. Der Sturm ließ die Welt noch grauer erscheinen.

Kurz vor Mitternacht erwachte Benny und war bei völlig klarem Bewußtsein. Er wußte genau, wo er war, wer er war und was mit ihm geschah. Er drehte seinen Kopf zu mir und lächelte mich an. Er versuchte, seinen Arm zu heben, aber er konnte nicht einmal seine Hand heben, so schwach war er.

Ich stand auf, stellte mich neben ihn ans Bett und hielt seine Hand. »Diese vielen Schläuche«, sagte ich, »ich glaube fast, sie wollen ein paar deiner Körperteile durch Roboterkram ersetzen.«

»Ich werd schon wieder gesund«, sagte er mit einer schwachen, zittrigen Stimme, aber mit seltsamer, ergreifender Zuversicht.

»Möchtest du einen Eiswürfel lutschen?«

»Nein, ich möchte .«

»Was möchtest du, Benny, du bekommst alles, was du magst.«

»Ich habe Angst, Papi .«

Meine Kehle schnürte sich zu, und ich befürchtete, gleich die Fassung zu verlieren, die ich während der langen Wochen seiner Krankheit so krampfhaft zu bewahren versucht hatte. Ich schluckte und sagte: »Hab keine Angst, Benny, ich bin ja bei dir. Hab -«

»Nein«, unterbrach er mich, »ich habe keine Angst . um mich. Ich habe Angst ... um dich.«

Ich hatte den Eindruck, er finge wieder an zu fantasieren und wußte nicht, was ich antworten sollte.

Aber seine folgenden Worte machten mir klar, daß er keineswegs fantasierte: »Ich möchte, daß wir alle . wieder zusammen sind . genauso wie damals, als Mami noch lebte . daß wir einmal alle wieder zusammen sind. Aber ich habe Angst, daß du ... uns nicht ... finden wirst.«

Was folgte, ist zu qualvoll, um es noch einmal ins Gedächtnis zurückzurufen. Ich war tatsächlich so besessen davon, an meiner atheistischen Überzeugung festzuhalten, daß ich es nicht über mich brachte, meinem Sohn eine harmlose Lüge zu erzählen, die ihm in den letzten Minuten seines Lebens Trost gegeben hätte. Warum versprach ich ihm nicht einfach, daß ich versuchen würde zu glauben und daß ich ihn im Himmel suchen würde, damit er beruhigt einschlafen konnte? Ellen hatte recht, als sie mich einer Besessenheit bezichtigte. Das einzige, was ich tat, war Bennys Hand fester in die meine zu nehmen, meine Tränen zurückzuhalten und ihn beruhigend anzulächeln.

»Wenn du nicht daran glaubst, daß du uns finden kannst . dann wirst du uns wahrscheinlich auch nicht finden«, murmelte er nach einer Weile.

»Ist schon gut, Benny«, sagte ich besänftigend. Ich küßte ihn auf die Stirn und auf seine linke Wange, legte mein Gesicht einen Augenblick lang an seins, umarmte ihn, so gut es eben ging,    und    versuchte,    die Verweigerung    des Glaubensversprechens durch Liebkosungen auszugleichen.

»Papi ... du bräuchtest ... ja nur nach uns zu suchen.«

»Du wirst schon wieder gesund werden, Benny.«

». nur nach uns zu suchen

»Ich hab dich lieb, Benny, ich hab dich sehr, sehr lieb.«

». uns nicht suchst . uns nicht finden .«

»Benny, Benny .«

Das graue Licht der Intensivstation fiel auf die grauen Laken und auf das graue Gesicht meines Sohnes.

Der graue Regen lief an dem grauen Fenster hinab.

Er starb in meinen Armen.

Mit einem Schlag kam wieder Farbe in die Welt. Viel zu viele Farben und so grell, daß sie mich schmerzten. Das helle Braun von Bennys starren, blicklosen Augen war das reinste, leuchtendste und schönste Braun, das ich je gesehen habe. Die Wände der Intensivstation waren hellblau gestrichen, und mir kam es vor, als seien sie nicht aus Kalk, sondern aus Wasser, und als würde ich in einem stürmischen Meer versinken. Das Giftgrün des EKG-Monitors flimmerte vor meinen Augen. Die blauen Wände schossen wie Flutwellen auf mich zu. Ich hörte die Schritte herbeieilender Krankenschwestern und des Assistenzarztes, die den Ausfall der Telemetriedaten ihres kleinen Patienten bemerkt haben mußten; aber noch ehe sie ins Zimmer kamen, wurde ich von einer blauen Woge überrollt und von einem tiefblauen Strudel in die Tiefe gerissen.

Ich gab meine Firma auf. Ich brach die Verhandlungen über neue Projekte ab. Bereits angenommene Aufträge übergab ich umgehend an andere Konstruktionsbüros, die auf meiner Linie lagen und mit denen meine Kunden einverstanden waren. Ich entließ meine Angestellten, zahlte ihnen eine großzügige Abfindungssumme aus und half ihnen teilweise bei der Suche nach einer neuen Stelle.

Mein Vermögen wandelte ich in langfristige Wertpapiere um, in Geldanlagen, um die man sich nicht weiter zu kümmern brauchte. Ich war in großer Versuchung, mein Haus zu verkaufen, doch nach gründlicher Überlegung ließ ich es einfach leerstehen und beauftragte einen Hausverwalter, während meiner Abwesenheit ab und zu nach dem Rechten zu sehen.

Einige Jahre später als Hal Sheen war ich damals zu dem gleichen Schluß gekommen, daß nämlich von Menschenhand konstruierte Bauwerke nicht der Mühe wert waren, die es bedurfte, sie zu errichten. Auch die großartigsten Gebäude aus Stein und Stahl waren nur jämmerliche Nichtigkeiten und waren für den Lauf der Welt ohne Bedeutung. Verglichen mit dem riesigen, kalten Universum, in dem Billionen von Sternen ihr Licht auf Millionen und Abermillionen von Planeten ausstrahlten, waren selbst die Pyramiden so fragil wie Origami-Kunstwerke. Im düsteren Licht von Tod und Unvorhersehbarkeit erschienen selbst die gewaltigsten Anstrengungen und die genialsten Leistungen töricht.

Und auch die Verbindungen zu Familie und Freunden hatten nicht mehr Bestand als die zerbrechlichen, von Menschenhand erbauten, steinernen Monumente. Ich hatte Benny einmal erklärt, daß wir in der Erinnerung weiterlebten, in der genetischen Struktur, in der Güte, die unsere eigenen guten Taten bei anderen geweckt hatte. Aber all diese Dinge erschienen mir jetzt ebensowenig greifbar wie die Rauchfahnen in einem frischen Wind.

Im Gegensatz zu Hal Sheen suchte ich jedoch keinen Trost im religiösen Glauben. Keine noch so schweren Schicksalsschläge konnten mich von meiner Besessenheit abbringen.

Ich hatte bis dahin geglaubt, daß religiöser Wahn das Entsetzlichste sei, das es gab. Doch jetzt entdeckte ich, daß es noch etwas viel Schrecklicheres gab: das Entsetzen, das ein Atheist empfindet, der nicht in der Lage ist, an Gott zu glauben, und der plötzlich auch nicht mehr an den Sinn menschlichen Kampfes und Mutes glauben kann. Folglich kann er in nichts mehr einen Sinn sehen, weder in der Schönheit, noch im Vergnügen, noch in der geringsten gütigen Tat.