Выбрать главу

Ich verbrachte den Herbst auf den Bermudas. Ich kaufte mir eine schnittige Cheoy Lee, eine 21-m-Yacht, und lernte sie zu bedienen. Allein umfuhr ich eine karibische Insel nach der anderen. Zuweilen schipperte ich tagelang nur mit Viertelkraft übers Meer, im Einklang mit dem gemächlichen Rhythmus des karibischen Lebens.

Doch manchmal verspürte ich plötzlich einen verzweifelten Drang, vorwärts zu kommen, keine Zeit mehr zu vergeuden, und dann preschte ich los, daß der Motor aufheulte, und donnerte wie ein Besessener über die Wellen, als ob ich zu einer bestimmten Zeit einen bestimmten Ort erreichen müßte.

Als ich die Karibik satt hatte, reiste ich nach Brasilien, doch schon nach ein paar Tagen fand ich auch Rio langweilig. Ich entwickelte mich zu einem Weltenbummler, der von einem Fünf-Sterne-Hotel ins nächste wechselte und von einer Weltstadt in die nächste: Hongkong, Singapur, Istanbul, Paris, Athen, Kairo, New York, Las Vegas, Acapulco, Tokio, San Francisco. Ich war auf der Suche nach etwas, das meinem Leben Sinn verleihen könnte, aber ich ahnte von Anfang an, daß ich das Gesuchte nicht finden würde.

Einige Tage lang glaubte ich, ich könnte mein Leben dem Glücksspiel verschreiben. In der zufälligen Verteilung der Spielkarten, in der Drehung der Roulettscheibe, vermeinte ich die fremde, ungebändigte Gestalt des Schicksals zu erblicken. Indem ich mich selbst in diesem tiefen Fluß der Zufälligkeit treiben ließ, bildete ich mir ein, in Einklang mit der Sinnlosigkeit und dem Chaos des Weltalls zu sein und folglich im Frieden mit mir selbst. In weniger als einer Woche gewann und verspielte ich ein Vermögen, und als ich schließlich den Spieltischen den Rücken kehrte, hatte ich hunderttausend Dollar verloren. Das war zwar nur ein kleiner Teil meines Vermögens, aber in diesen wenigen Tagen erkannte ich, daß es nichts half, sich dem Prinzip des Zufalls zu überlassen. Der Zufall stellte keine Ausflucht aus dem Bewußtsein der Endlichkeit des Lebens und aller vom Menschen geschaffenen Dinge dar.

Im Frühjahr kehrte ich nach Hause zurück. Ich hatte nur noch einen Wunsch: zu sterben. Ob ich daran dachte, Selbstmord zu begehen, weiß ich nicht. Vielleicht bildete ich mir ein, da ich jeden Lebenswillen verloren hatte, brauchte ich mich einfach nur an einen vertrauten Ort hinzulegen, und der Tod würde schon von selbst über mich kommen, ohne daß ich Hand an mich legen müßte. Ich hatte zwar keine Vorstellung davon, wie der Tod zu erlangen war, ich wußte nur, daß er mein Ziel war.

Das Haus in Buck’s County war voller schmerzhafter Erinnerungen an Ellen und Benny. Als ich vom Küchenfenster aus einen Blick auf die Kirschbäume hinter dem Haus warf, die in Tausenden von leuchtend weißen Blüten erstrahlten, krampfte sich mein Brustkorb zusammen, als würde er von einem Schraubstock zerquetscht.

Benny hatte die Bäume so geliebt, wenn sie in voller Blüte standen, und der Anblick ihrer Blüten rief die Erinnerung an ihn so intensiv wach, daß es mir tief ins Herz schnitt. Der Schmerz schnürte mir die Luft ab. Ich lehnte mich ein paar Sekunden an den Küchentisch, rang nach Atem und wurde von einem Weinkrampf geschüttelt.

Nach einer Weile ging ich hinaus in den Garten und blickte zu den wundervoll geschmückten Zweigen hinauf. Benny war nun schon seit fast neun Monaten tot, doch die Bäume, die er so geliebt hatte, blühten aufs neue. Die erneute Baumblüte schien mir ein Zeichen dafür zu sein, daß zumindest ein Teil von Benny immer noch am Leben sein müßte. Ich dachte angestrengt über diese verrückte Idee nach . als die Bäume urplötzlich sämtliche Blüten abwarfen. Nicht nur ein paar Blüten. Nicht nur ein paar hundert. Nein, innerhalb einer Minute waren von beiden Bäumen sämtliche Blüten abgefallen. Zu Tode erschrocken drehte ich mich um meine eigene Achse, und die weißen Blüten wirbelten um mich herum wie dicke Schneeflocken in einem Schneesturm. Derartiges hatte ich noch nie zuvor gesehen. Kirschblüten fallen doch nicht einfach gleichzeitig zu Tausenden an einem windstillen Tag von den Zweigen!

Als dieses merkwürdige Phänomen vorüber war, zupfte ich ein paar Blüten von meinen Schultern und aus meinem Haar und untersuchte sie sorgfältig. Sie waren weder verwelkt, noch vertrocknet, und es sah auch nicht so aus, als wäre der Baum von einer Krankheit befallen.

Ich schaute hinauf zu den Ästen.

Nicht eine Blüte war an den Bäumen hängengeblieben.

Mein Herz hämmerte wild.

Eine sanfte Westwindbrise wirbelte die Blütenblätter um meine Füße herum.

»Nein!« schrie ich entsetzt, ohne zu wissen, was ich eigentlich damit meinte.

Ich drehte mich abrupt um und rannte zurück ins Haus. Dabei fielen die noch verbliebenen Kirschblüten aus meinem Haar und meiner Kleidung.

Doch als ich in meiner Bibliothek eine Flasche Jack Daniels aus dem Barfach nahm, merkte ich, daß ich noch immer einige Blüten in meiner zusammengepressten Hand hielt. Ich ließ sie auf den Fußboden fallen und rieb die Handfläche an meinen Hosen ab, als hätte ich etwas Schmutziges angefaßt.

Ich nahm die Whiskyflasche mit ins Schlafzimmer und betrank mich dort sinnlos, um nicht mehr über den Grund nachdenken zu müssen, warum ich mich eigentlich betrank. Ich redete mir ein, es habe nichts mit den Kirschbäumen zu tun, sondern daß ich nur trank, um den Kummer über all das, was ich in den letzten Jahren erlitten hatte, zu betäuben.

Meine Besessenheit war hart wie Stahl.

Ich schlief elf Stunden ohne Unterbrechung und erwachte schließlich mit einem fürchterlichen Kater. Nachdem ich zwei Aspirintabletten geschluckt hatte, stellte ich mich unter die Dusche und ließ eine Viertelstunde lang heißes Wasser über mich laufen, brauste mich dann eine Minute lang mit kaltem Wasser ab und massierte mich kräftig mit meinem Handtuch. Ich schluckte zwei weitere Aspirintabletten und ging in die Küche, um mir Kaffee zu kochen.

Aus dem Fenster über dem Spültisch blickte ich hinüber zu den Kirschbäumen: Sie standen in voller Blüte!

Halluzinationen, dachte ich aufatmend. Der wilde Blütensturm vom Vortag war nichts weiter gewesen als eine Halluzination.

Ich lief hinaus, um die Bäume aus der Nähe zu betrachten. Auf dem feuchten Gras unter den Ästen lagen nur ein paar vereinzelte weiße Blütenblätter, nicht mehr, als eine leichte Frühlingsbrise vom Baum geschüttelt hätte.

Erleichtert, doch sonderbarerweise auch etwas enttäuscht, ging ich zurück in die Küche. Der Kaffee war inzwischen durchgelaufen. Während ich mir eine Tasse voll einschenkte, fielen mir die Blüten ein, die ich in der Bibliothek auf den Boden geworfen hatte.

Doch erst nachdem ich zwei Tassen starken Kaffee getrunken hatte, fand ich den Mut, in die Bibliothek zu gehen. Die Blüten lagen noch da:    ein Häufchen zerdrückter Blütenblätter, die über Nacht gelb geworden waren und braune Spitzen bekommen hatten. Ich hob sie auf und umschloß sie mit meiner Hand.

Nur ruhig Blut, sagte ich mit zitteriger Stimme zu mir selbst. Deswegen brauchst du noch lange nicht an Jesus Christus oder Gott Vater oder an irgendeinen körperlosen Heiligen Geist zu glauben.

Religion ist eine Krankheit.

Nein, nein, du brauchst ja nicht an diese albernen Rituale, an Dogmen und Doktrinen zu glauben. Du brauchst nicht einmal an Gott zu glauben, selbst wenn du an ein Leben nach dem Tod glaubst.

Das ist doch völlig irrational.

Nein, warte, denk noch mal darüber nach: Wäre es nicht möglich, daß ein Leben nach dem Tod etwas ganz Normales ist? Kein göttliches Geschenk, sondern einfach eine ganz natürliche Tatsache? Die Raupe lebt ja auch ein Leben und verwandelt sich danach in ihrem zweiten Leben in einen Schmetterling. Könnte es, verdammt noch mal, demnach nicht möglich sein, daß unser Körper sich im Raupenstadium befindet und daß unsere Seele in eine andere Existenzart entflieht, sobald unser Körper ausgedient hat? Die Metamorphose des Menschen könnte doch eine ebensolche Transformation sein wie die der Raupe, nur auf einer höheren Ordnung.