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»Ich habe niemanden bewußt wahrgenommen«, entschuldigte sich Joey.

»Wie geht es Ihnen?«

»Gut. Ich kann nicht klagen.«

Sie standen einen Augenblick lang etwas unbeholfen da und wußten nicht, was sie sagen sollten. Dann ließ Joey sich in einem der großen Sessel vor dem Schreibtisch nieder.

Kadinska nahm ebenfalls wieder Platz und griff nach seiner Pfeife. Er war Mitte fünfzig, ein schmaler Mann mit vorstehendem Adamsapfel. Sein Kopf schien im Verhältnis zum Körper etwas zu groß geraten, und dieser Eindruck wurde noch dadurch verstärkt, daß er eine Stirnglatze hatte. Seine nußbraunen Augen hinter den dicken Brillengläsern sahen freundlich aus.

»Haben Sie den Hausschlüssel unter der Matte gefunden?«

Joey nickte.

»Im Haus hat sich wenig verändert, stimmt’s?« fragte Henry Kadinska.

»Weniger als ich erwartet hatte. So gut wie nichts.«

»Ihr Vater hatte früher nie Geld für irgendwelchen Luxus, und als er dann endlich zu etwas Geld kam, wußte er nicht, wofür er es ausgeben sollte.« Er zündete seine Pfeife an. »Es hat P. J. ganz verrückt gemacht, daß Dan sich kaum etwas gönnte.«

Joey rutschte unbehaglich im Sessel hin und her. »Mr. Kadinska, ich verstehe nicht, warum Sie mich sehen wollten ...«

»Weiß P. J. immer noch nicht, daß Ihr Vater gestorben ist?«

»Ich habe mehrmals in seiner New Yorker Wohnung angerufen, konnte aber nur auf dem Anrufbeantworter eine Nachricht hinterlassen. Er verbringt höchstens einen Monat im Jahr in New York.«

Die Pfeife brannte wieder. Es roch nach Tabak mit Kirscharoma. Trotz der Diplome und Bücher hatte der Raum wenig von einer durchschnittlichen Anwaltskanzlei an sich. Er war gemütlich - ein wenig schäbig, aber gemütlich. Und Henry Kadinska lehnte so entspannt in seinem Schreibtischsessel, als säße er im Pyjama vor dem Fernseher.

»Manchmal ruft er den Anrufbeantworter tage- oder sogar wochenlang nicht ab.«

»Komische Lebensweise - fast immer unterwegs. Aber für ihn scheint es das Richtige zu sein.«

»Er genießt dieses Leben.«

»Und das Resultat sind dann seine wundervollen Bücher«, sagte Kadinska. »Ja.«

»Ich liebe seine Bücher sehr.«

»Alle lieben seine Bücher.«

»Sie vermitteln einem ein herrliches Gefühl von Freiheit, und sie sind so ... so geistsprühend.«

»Mr. Kadinska, bei diesem miserablen Wetter möchte ich mich so schnell wie möglich auf den Weg nach Scranton machen. Das Flugzeug startet morgen in aller Herrgottsfrühe.«

»Ja selbstverständlich«, murmelte Kadinska, sichtlich enttäuscht. Plötzlich wirkte er wie ein einsamer Mensch, der sich auf eine freundschaftliche Unterhaltung gefreut hatte.

Während der Anwalt eine Schreibtischschublade öffnete und nach etwas suchte, fiel Joey auf, daß eines der schief aufgehängten Diplome von der Harvard University stammte. Für einen Kleinstadtanwalt im Kohlerevier war das eine höchst ungewöhnliche Alma Mater.

Jetzt bemerkte Joey auch, daß nicht alle Bücherregale mit juristischer Fachliteratur gefüllt waren. Es gab auch viele philosophische Werke. Plato, Sokrates, Aristoteles, Kant, Augustinus, Kierkegaard, Bentham, Santayana, Schopenhauer, Empedokles, Heidegger, Hobbes und Francis Bacon.

Vielleicht fühlte Henry Kadinska sich als Kleinstadtanwalt doch nicht so wohl, wie es auf den ersten Blick den Anschein hatte; vielleicht hatte er einfach irgendwann resigniert, weil die Macht der Gewohnheit ihn daran hinderte, aus der Kanzlei seines Vaters auszubrechen.

Manchmal - besonders im Whiskyrausch - vergaß Joey allzu leicht, daß er nicht der einzige Mensch auf der Welt war, dessen Träume im Nichts zerronnen waren.

»Der letzte Wille Ihre Vaters«, sagte Kadinska, während er eine Faltmappe öffnete. »Sein Testament.«

»Eine Testamentseröffnung?« frage Joey. »Ich glaube, daß dafür P. J. hier sein müßte, nicht ich.«

»Im Gegenteil. Das Testament hat mit P. J. nichts zu tun. Ihr Vater hat alles Ihnen hinterlassen.«

Von unerträglichen Schuldgefühlen geplagt, murmelte Joey: »Warum hätte er das tun sollen?«

»Warum nicht? Sie sind sein Sohn.«

Joey zwang sich, dem Anwalt direkt in die Augen zu blicken. Wenigstens an diesem einen Tag wollte er ganz aufrichtig sein, wollte seinem Vater mit einem würdigen Benehmen Ehre machen.

»Wir kennen beide die bittere Antwort auf Ihre Frage, Mr. Kadinska. Ich habe meinem Vater das Herz gebrochen, und ebenso meiner Mutter. Sie siechte über zwei Jahre an Krebs dahin, aber ich bin nie gekommen, habe nie ihre Hand gehalten, habe meinen Dad nie getröstet. Ich habe ihn in den letzten zwanzig Jahren seines Lebens kein einziges Mal besucht und insgesamt höchstens sechs- oder achtmal angerufen. Oft wußte er nicht einmal, wie er mich erreichen konnte, weil ich ihm weder meine Adresse noch meine Telefonnummer gab. Und auch wenn er meine Nummer hatte, war bei mir immer der Anrufbeantworter eingeschaltet, damit ich nicht mit ihm zu reden brauchte. Ich war ein erbärmlicher Sohn, Mr. Kadinska. Ich bin ein Säufer, ein Egoist und Versager, und ich verdiene keine Erbschaft, so klein sie auch sein mag.«

Joeys unerbittliche Selbstkritik schien Henry Kadinska zu verstören. »Jetzt sind Sie aber nicht betrunken, Joey, und der Mann, den ich vor mir sehe, ist mit Sicherheit kein schlechter Mensch.«

»Spätestens heute abend werde ich betrunken sein, Sir, das versichere ich Ihnen«, sagte Joey ruhig. »Und wenn Sie mich nicht so sehen, wie ich mich beschrieben habe, sind Sie ein sehr schlechter Menschenkenner. Sie wissen überhaupt nichts von mir - und das ist Ihr Glück.«

Kadinska legte seine Pfeife wieder in den Aschenbecher. »Nun, Ihr Vater hatte Ihnen jedenfalls verziehen, und er wollte, daß Sie alles erben.«

Joey stand abrupt auf. »Nein, ich kann dieses Erbe nicht annehmen. Ich will es nicht haben.« Er ging auf die Tür zu. »Bitte warten Sie«, rief der Anwalt. Joey blieb stehen und drehte sich um. »Das Wetter ist miserabel, und die Fahrt durchs Gebirge nach Scranton wird kein reines Vergnügen sein.«

In seinen Sessel zurückgelehnt, griff Henry Kadinska wieder nach seiner Pfeife. »Wo wohnen Sie, Joey?«

»Das wissen Sie doch - in Las Vegas. Dort haben Sie mich ja erreicht.«

»Ich meine - wo in Las Vegas?«

»Warum?«

»Ich bin Anwalt. Ich habe mein ganzes Leben damit verbracht, Fragen zu stellen, und jetzt kann ich es mir einfach nicht mehr abgewöhnen. Verzeihen Sie bitte.«

»Ich lebe in einer Wohnwagenkolonie.«

»In einer dieser tollen Anlagen mit Swimmingpool und Tennisplätzen?«

»Alte Wohnwagen«, sagte Joey unverblümt. »Schäbige alte Wohnwagen.«

»Kein Pool? Kein Tennis?«

»Nein, verdammt, nicht einmal Gras.«

»Und womit verdienen Sie Ihren Lebensunterhalt?«

»Als Croupier. Bei Kartenspielen wie Blackjack, manchmal auch beim Roulette.«

»Arbeiten Sie regelmäßig?«

»Nur wenn ich unbedingt muß.«

»Wenn das Trinken Sie nicht daran hindert?«

Joey dachte daran, daß er sich selbst versprochen hatte, heute ausnahmsweise einmal nur die Wahrheit zu sagen. »Ja, wenn ich arbeiten kann. Man verdient ganz gut, weil die Spieler hohe Trinkgelder geben. Ich kann immer etwas sparen, für die Zeiten, wo ich ... wo ich etwas Urlaub nehmen muß. Ich komme gut zurecht.«

»Aber in den schicken Casinos finden Sie wohl nicht mehr oft einen Job, wenn Ihre Arbeitspapiere immer wieder Lücken aufweisen?«

»Stimmt.«

»Sie müssen sich mit immer schäbigeren Arbeitsplätzen begnügen, ja?«

»Für einen Mann, der sich noch vor kurzem so teilnahmsvoll anhörte, sind Sie plötzlich ganz schön grausam.«

Kadinska errötete vor Verlegenheit. »Entschuldigen Sie bitte, Joey, aber ich möchte Ihnen nur klarmachen, daß Sie es sich eigentlich nicht erlauben können, eine Erbschaft auszuschlagen.«