Der Heermeister spürte, wie das Boot herumschwang. Ulur hielt also tatsächlich Wort. Der Aal schrammte an der steinernen Mole entlang. Langsam schob sich das Boot aus dem Wasser.
»Jetzt!«, rief Ulur.
Nodon öffnete den Deckel des Luks. Die Kurbelwelle des Aals kam mit einem Ruck zum Stillstand.
Hornbori hörte Pfeile in den massiven Kupferdeckel schlagen.
»Los!«, drängte Galar und griff nach der Axt, die hinter ihm an der Wand hing. Auch die übrigen Zwerge erhoben sich bereits von ihren Plätzen.
»Vorwärts, ihr verfluchten Tunnelwürmer!« Ulur schob sich vom Steuerplatz im Bug des Aals zurück in die Röhre mit der Kurbelwelle. »Wir wollen dem Elfen doch nicht allen Ruhm allein überlassen.«
Hornbori erhob sich von seinem Sitz. Seine Beine waren schwer wie Blei. Er hätte aufmunternde Reden schwingen sollen! Er war hier der Anführer. Der Zwerg griff nach der Leiter. Draußen erklangen wütende Schreie. Weitere Pfeile schlugen gegen den Deckel. Nodon war bereits aus dem Luk verschwunden.
Der Zwerg biss die Zähne zusammen und stieg Sprosse für Sprosse die Leiter hinauf. Ich werde hier nicht sterben, versprach er sich in Gedanken. Ich werde hier nicht sterben!
Er streckte den Kopf hinaus. Der Deckel versperrte ihm die Sicht. Jemand klatschte ihm auf den Hintern und rief: »Weiter!«
Unwillig stieg er durch das Luk. In der riesigen Grotte herrschte Zwielicht, ähnlich wie im Rumpf des Aals, den nur ein einziger kleiner Barinstein ausgeleuchtet hatte.
»Vorwärts!«, erklang es wieder hinter ihm.
Das war Galar, da war sich Hornbori ganz sicher. Der Heermeister richtete sich auf, und ein Pfeil surrte um Haaresbreite an seinem Gesicht vorbei.
Hastig schob sich der Zwerg am Luk vorbei. Sie lagen an einer von schleimigen Algen überwucherten Hafenmauer. Es stank nach Abfällen, und immer noch lag der Geruch kalten Rauchs und ausgekohlter Balken in der Luft.
Hornbori hob seine Axt. Er wollte irgendeinen tollkühnen Schlachtruf schmettern, doch die Angst lähmte seinen Verstand. Ihm fiel nichts ein! Er starrte zu dem Elfen, der vom Heck über eine Treppe an der Hafenmauer hinauf zu einer Gruppe Bogenschützen stürmte. Er war so schnell, dass seine Bewegungen verschwammen. Sein geflammter Dolch war eine Fläche aus fließendem Silber. Pfeile sirrten um Nodon wie wütende Hornissen. Doch er ignorierte sie einfach.
Könnte er doch nur auch so tollkühn wie der Drachenelf sein! Er wollte ein Held sein … Aber seine Beine verweigerten ihm den Dienst, wenn es darum ging, in den Kampf zu stürmen.
»Mach Platz, Schisser!«
Galar drängte ihn zur Seite. Dem Schmied folgten Nyr und Ginnar.
Tosend schlugen Felsbrocken ins Wasser. Etwas dröhnte wie eine angeschlagene Glocke. Hornbori fuhr erschrocken herum. Auf einer Felsterrasse direkt über der Hafeneinfahrt standen Dutzende Menschenkinder. Mit langen Stangen hebelten sie Steine hinab ins Wasser, in dem sich deutlich die Umrisse der einfahrenden Aale abzeichneten.
Noch ein Boot wurde getroffen. Die Menschenkinder jubelten. Dicke Luftblasen stiegen aus der Tiefe auf. Hornbori stellte sich vor, was in dem beschädigten Aal vor sich gehen musste. Wie Wasser den Fußraum mit der Kurbelwelle füllte, alle verzweifelt zu der einen Leiter zum Luk hinaufstürmten.
Er umklammerte seine Axt mit beiden Händen.
»Vorwärts!«, rief er grimmig und stapfte der Treppe an der Mauer entgegen, als der Krieger, der vor ihm ging, plötzlich zurücktaumelte. Ein Pfeil hatte seine Oberlippe durchdrungen, die Zähne zersplittert und steckte ihm so tief im Rachen, dass er mit verzweifelt gurgelnden Lauten Blut spie.
Der Sterbende taumelte Hornbori in die Arme und sah mit großen grauen Augen verzweifelt zu ihm auf. Er wollte etwas sagen, doch er brachte nur unverständliches Gestammel hervor.
Hornbori sah in die sterbenden Augen. Das hätte er sein können! Hätte er nicht zurückgeblickt oder wäre er ein wenig entschlossener gewesen.
Ein Pfeil schlug zwei Handbreit neben ihm auf die Kupferplatten.
Wann hörten diese verrückten Kämpfe endlich auf?
Der Kamerad in seinen Armen war verstummt. Hornbori wusste fast nichts über ihn, nicht einmal den Namen, obwohl sie sich vier Tage lang in einem engen, stinkenden Aal gegenübergesessen hatten. Der Tote hatte eine schöne Singstimme gehabt. Das war dem Heermeister aufgefallen, als sie sich die endlose Monotonie des Kurbeltretens mit Liedern vertrieben hatten.
Er legte den Toten ab und stand auf. Ulur wuchtete seinen massigen Leib durch das Luk. Er war der Letzte, der das Boot verließ. So war es immer.
»Noch hier, Heermeister?«
Lag da gehässiger Spott in seiner Stimme? Hornbori trat Ulur entschlossen entgegen und streckte die Hand nach ihm aus, um ihm an Deck zu helfen, als er in eine Blutlache trat und ausrutschte. Er fing sich, doch dann wurde ihm bewusst, dass das die Lösung war! Übertrieben ruderte Hornbori mit den Armen und ließ seine Axt auf eine Stelle des Decks fallen, von der sie nicht ins Wasser rutschen würde. Dann ließ er sich laut fluchend nach hinten kippen, schlug seitlich auf das Deck und rutschte hinab ins Wasser.
Bis zum Hals ins lauwarme Nass zu tauchen war ihm so willkommen wie die Umarmung einer Geliebten. Es würde ihm Zeit verschaffen. Der Kampf auf der Mole dauerte gewiss nicht lange. Und hier im Wasser würden die Bogenschützen ihn wahrscheinlich ignorieren. Jeder Zwerg mit einer Axt in der Hand auf der Mole war ein wichtigeres Ziel.
Gellende Schreie ließen ihn zurück zur Hafeneinfahrt blicken. Jetzt stürzten nicht Felsbrocken, sondern Menschenkinder von der Terrasse. Etwas bewegte sich hinter ihnen. Es war größer als die Menschen und beängstigend schnell, aber kein Elf, da war sich Hornbori sicher. Er sah die huschende Gestalt nur als Schattenriss. Sie hatte etwas Schlangenhaftes. Was natürlich Unsinn war. Dieser eine Kämpfer machte den Menschen so viel Angst, dass sie lieber ins Wasser sprangen, als sich ihm zu stellen.
Doch die Schreie hörten nicht auf. Und dann sah Hornbori es: Im Wasser der Hafendurchfahrt wimmelte es von Haien. Überall waren die unheimlichen Rückenflossen zu sehen. Männer wurden hinabgezogen oder von mehreren der Räuber zugleich regelrecht zerfleischt, wenn sie um ihre Beute stritten.
Und er war im Wasser! Hornbori spähte über die dunkle Fläche. Überall legten jetzt Aale an den Hafenmauern an. Doch da waren auch Haie, die die großen Tauchboote begleiteten und nun an den Liegeplätzen entlangstrichen.
Kalte Angst griff nach seinem Herzen. Er versuchte, sich auf die Wilde Sau zu ziehen, doch an dem glatten, metallbeschlagenen Rumpf fand er keinen Halt. Strampelnd hielt er auf die Hafenmauer zu. Die Treppe. Wenn sie bis unter die Wasserlinie reichte, dann würde er dort herauskommen.
Er war kein guter Schwimmer. Hornbori ruderte wild mit den Armen und schluckte doch das dunkle, brackige Wasser. Dazu strampelte er nach Leibeskräften mit den Beinen. Quälend langsam kam er der Hafenmauer näher, während der Sog in die Tiefe mit jedem Herzschlag stärker wurde. Das war ganz gewiss nicht die Art, wie er abtreten würde! Spurlos in diesem Hafenbecken verschwunden! Erst jetzt fiel ihm auf, dass niemand bemerkt zu haben schien, dass er über Bord gestürzt war. Oder schlimmer noch, es war allen egal.
Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bis er die Stufen erreichte. Sie waren über und über mit zotteligen Algen bewachsen. Anders als er gehofft hatte, reichten sie nicht bis unter die Wasserlinie. Mit letzter Kraft griff Hornbori über seinen Kopf. Gerade eben schaffte er es, die unterste Stufe zu berühren. Seine Finger krallten sich in das Grün der Algen und glitten ab. Kurz sackte er mit dem Kopf unter Wasser, um strampelnd und prustend wieder an die Oberfläche zu kommen.
Und da sah er sie – die Flosse, die in gerader Linie auf ihn zusteuerte.
»Zapple nicht so! Das lockt sie an«, rief ihm plötzlich Ulur zu.
Der Schiffsführer musste noch einmal hinab in den Aal gestiegen sein. Er hielt nun ein Tau in Händen. »Fang das!«
Doch Hornbori hatte nur Augen für den Hai. Die Bestie war keine zwanzig Schritt mehr entfernt. Noch einmal versuchte er, die Stufe hinaufzukommen. Seine Nägel kratzten über den Stein, brachen und fanden doch keinen Halt. Da war keine Fuge, kein Riss, nichts, das ihn hätte retten können. Er sackte erneut ins Wasser. Wieder tauchte er unter. Länger diesmal.